Magisterarbeit: Wechselbeziehung zwischen Kulturgeographie und Internet |
Anders ausgedrückt, soll ein Benutzer allein aufgrund der Tatsache, dass er sich tausende Kilometer
von seinen Daten entfernt befindet, nicht daran gehindert werden, die Daten so zu nutzen, als wären sie
lokal vorhanden. Dieses Ziel kann man unter dem Motto Nieder mit der Tyrannei der Geographie
zusammenfassen.
ANDREW S. TANENBAUM, 1998, S. 19
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Obwohl das Eingangszitat das Werk eines für seine Verhältnisse recht humorigen Fachautors der
Netzwerktechnik ist, wird es dem Geographen schwer im Magen liegen, als Vertreter eines tyrannischen
Systems bezeichnet zu werden. Aus dem Zitat geht hervor, dass Tanenbaum den physischen Raum und dessen
Distanzen als Beschränkung der menschlichen Handlungsfreiheit ansieht. Er betrachtet es daher als seine
Aufgabe, mit der Schaffung eines virtuellen Raumes, der durch die Vernetzung von Computern entsteht, eine
Verbindung zwischen den voneinander entfernten physischen Räumen zu schaffen. Bei diesem Versuch
unterliegt jedoch auch er den Gesetzen des Physischen, da er auf Hilfsmittel, wie Datenleitungen oder
Satellitenanlagen, angewiesen ist. Der Plan von der Überwindung des physischen Raumes scheint somit
zumindest momentan noch nicht zu verwirklichen zu sein, da die Mittel zur Durchführung dieses Vorhabens
in dem abzuschaffenden Objekt selbst verankert sind.
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Tanenbaum bezieht sich in seiner Aussage nicht auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Menschen, sondern
auf dessen Fähigkeit, Daten auszutauschen. Was veranlasst ihn zur Hervorhebung dieses Aspekts? Es ist ein
Hinweis darauf, welchen Bedeutungszuwachs Informationen und Daten, die mit Hilfe des Computers gesammelt,
geordnet und abgerufen werden können, in der heutigen Zeit erfahren. Begriffe wie Informatisierung,
Digitalisierung oder Wissensgesellschaft umschreiben die Einflüsse dieser Entwicklung auf eine
Gesellschaft, in der Informationen zu einem existenziellen Gut geworden sind. Wissen ist Macht -
so brachte es Francis Bacon (1561-1626) lange bevor die genannten Prozesse überhaupt einsetzten auf den
Punkt, woran sich zeigt, dass das Phänomen an sich nichts Neues ist. Bisher nicht dagewesen ist dagegen
die Dynamik, die diese Form des Wissens entwickelt, denn der Zugang zu diesen speziellen Informationen
scheint unter anderem zur Folge zu haben, dass frühere Machtfaktoren, wie Geld, Waffen oder die
Herrschaft über Territorien verdrängt werden.
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Auch die Verbreitung von Wissen verläuft in heutiger Zeit nach anderen Kriterien. War es lange Zeit der
Oberschicht vorbehalten, sich durch Schulbildung die Grundlage für den weiteren Wissenserwerb zu
schaffen, hat heutzutage ein weitaus größerer Teil der Gesellschaft diese Möglichkeit. Dennoch gibt es
nach wie vor Klassenunterschiede, wenn es um den Zugang zu Bildung und Informationen geht. Dieser
Gegensatz tritt verschärft hervor, wenn man die Situation von Industrie- und Entwicklungsländern im
Vergleich betrachtet.
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Um die Auswirkungen dieser Prozesse in der Praxis zu untersuchen, bietet es sich an, ein konkretes
Beispiel auszuwählen, da der Begriff der Information an sich sehr abstrakt ist. Die folgende Arbeit
greift zu diesem Zweck das Phänomen des Internet heraus, weil es die weitreichendste
Informationstechnologie ist und die meisten aller sonstigen Erscheinungen des Prozesses
miteinschließt oder zumindest in Ansätzen berührt. Alternativ wäre zum Beispiel auch eine Analyse des
Wirtschaftssystems im Zeichen der Informatisierung oder der Wandel des politischen Handelns denkbar. Auf
technischer Ebene könnten die Prozesse anhand der Nutzung von Kommunikationsmitteln untersucht werden.
Dies sind jedoch nur Teilbereiche der sich wandelnden Realität, wogegen eine Betrachtung des Internet
alle diese Faktoren miteinschließt, wenn man sowohl die technische Ebene, als auch die gesellschaftlichen
Implikationen berücksichtigt.
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Was hat dieses Thema nun mit der Geographie im Speziellen zu tun? Für die physische Geographie ist das
Internet vor allem ein Hilfsmittel, um auf weltweite Datenbanken zugreifen zu können. Die Inhalte selbst
verändert das Medium nicht, da die Geofaktoren der physischen Umwelt nicht beeinflusst werden. Die
Kulturgeographie ist dagegen in viel stärkerem Maße von den Prozessen der Informatisierung betroffen, weil
nicht nur ihre Arbeitsweisen, sondern auch die Untersuchungsobjekte selbst durch das Internet geprägt
werden. Sollten diese Veränderungen wirklich so tiefgreifend sein, dass man von einem Übergang der
Industrie- zur Informationsgesellschaft sprechen kann, wie es bisweilen vorhergesagt wird, dann erfährt
sowohl individuelles Handeln, als auch das politische und wirtschaftliche System einen tiefgreifenden
Wandel. Für die Kulturgeographie ist interessant zu untersuchen, inwiefern sich die genannten
Veränderungen in der Ausprägung räumlicher Verhaltensmuster niederschlagen. Es wird die Frage zu
beantworten sein, ob Distanzen im Zeitalter der Informatisierung tatsächlich an Bedeutung verlieren und
der Raum damit eine Auflösung erfährt oder ob die Auswirkungen weniger gravierend ausfallen.
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Neben der Revision der klassischen geographischen Forschungsbereiche bleibt die Frage offen, inwieweit
sich ein neuer Zweig innerhalb der Disziplin entwickeln kann, der sich mit den neuen räumlichen
Bedingungen im Zuge der Informatisierung beschäftigt. Schon heute fällt auf, dass immer dann, wenn
von Informationen und Daten, insbesondere dem Internet, die Rede ist, Begriffe zur Beschreibung
herangezogen werden, die auch in der Geographie von Bedeutung sind: virtueller Raum,
Cyberspace, globales Dorf, Topographie des Internet, Cybercities
oder elektronische Marktplätze. Nicht zuletzt stehen dem Benutzer des World Wide Web als
Hilfsmittel unter anderem der Netscape Navigator und der Internet Explorer zur Verfügung, die an die
frühen Entdeckungsreisen der geographischen Urväter erinnern ( AMMANN, 1999).
Sollte dies ein Hinweis darauf sein, dass neben dem physischen ein eigenständiger Raum entsteht, der den
Gesetzmäßigkeiten der Informationen folgt, aber gleichzeitig die Prinzipien des physischen Raumes
beinhaltet? Wenn ja, ist dieser Raum dann so beschaffen, dass klassische Ansätze der Geographie darauf
angewandt werden können, oder besteht die Möglichkeit, dass sich eine eigene Disziplin in Form einer
Virtuellen Geographie entwickelt? Diesen Fragen soll in der folgenden Arbeit nachgegangen werden. Nicht
berücksichtigt werden arbeitsmethodische Themen, wie die Darstellung kulturgeographischer Inhalte im
Internet oder die Nutzung des Internet für Unterrichtszwecke.
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Im ersten Teil der Arbeit werden zur Einführung sowohl die historischen, als auch die technischen
Grundlagen des Internet vermittelt, die im weiteren Verlauf in die Analyse miteinbezogen werden.
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Der zweite Teil beschäftigt sich mit den geographischen Aspekten des Themas in der Theorie. Der Blick
soll dabei besonders auf den geographischen Raumbegriff gerichtet werden, dessen Entwicklung als
Wechselwirkung von gesellschaftlichen Prozessen und den Einflüssen fachfremder Disziplinen, beginnend bei
Immanuel Kant bis in die Gegenwart, dargestellt wird. Die Betrachtung dieser Entwicklung soll darauf
hinführen, Anknüpfungspunkte für eine geographische Analyse des Internet zu finden, wobei in diesem Fall
als Bezugspunkt die Begriffe virtueller Raum und Cyberspace dienen, die in diesem Zusammenhang
eingeführt werden.
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Im dritten Kapitel wird das Augenmerk erneut auf die technische Seite des Internet gerichtet. Es werden
die Möglichkeiten einer kulturgeographischen Analyse der physischen Internet-Infrastruktur, die alle
Arten von Übertragungsmedien und technischen Komponenten umfasst, geschildert. Da es dabei vor allem um
räumliche Anordnungsmuster geht, umfasst die Betrachtung sowohl das Aufzeigen kartographischer
Möglichkeiten, um diese Strukturen darzustellen, als auch die Analyse der sich ergebenden Muster selbst.
In der zweiten Hälfte des Kapitels werden Programme vorgestellt, mit deren Hilfe man die Datenströme des
Internet darstellen kann. Diese Traceroute-Programme ermöglichen die Verfolgung von Datenpaketen und die
Lokalisierung von Übertragungsstationen. Sie bieten ebenfalls die Möglichkeit einer kartographischen
Ausgabe, die anhand von Beispielen vorgestellt wird.
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Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der eingangs geforderten Überprüfung der bisherigen
Forschungsbereiche der Kulturgeographie auf ihre mögliche Beeinflussung durch das Internet. Betrachtet
werden dabei die Untersuchungsobjekte Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Der Punkt Gesellschaft umfasst
die Demographie der Internetnutzer, sowie die Frage nach nationalen und internationalen
Zugangsdisparitäten bezüglich der Nutzung des Internet. Unter dem Stichpunkt Wirtschaft werden die
Einflüsse des Internet auf die klassische Standorttheorie, sowie auf die Beschäftigungsstruktur
behandelt. Im Unterkapitel Politik werden auf der nationalen Ebene Veränderungen des politischen Systems
durch das Internet aufgezeigt, sowie die spezielle Bedeutung des Internet für die Demokratisierung in
Ländern mit autoritären oder totalitären Systemen hervorgehoben.
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Im Schlussteil sollen die zukünftigen Wechselbeziehungen von Kulturgeographie und Internet
zusammengefasst und Ausblicke auf potenzielle Forschungsbereiche gegeben werden.
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Bisher gibt es nur wenige geographische Arbeiten, die sich mit dem Thema Internet beschäftigen, weswegen
ein großer Teil der verwendeten Literatur aus Nachbardisziplinen, wie der Informatik bzw.
Netzwerktechnik, oder aus der Soziologie stammt. Weitere Quellen sind Dokumente aus dem Internet. Da
Verweise auf Online-Dokumente oft nur kurze Zeit nachvollzogen werden können, wird als
Aktualitätsreferenz im Literaturverzeichnis das Datum des letzten Besuchs der Seite angegeben. Das
Literaturverzeichnis ist aufgrund des großen Anteils von Online-Dokumenten in zwei Kategorien unterteilt:
Literatur enthält alle herkömmlichen Dokumente, Online-Dokumente umfasst alle Quellen
aus dem Internet; die jeweiligen Literaturverweise im Text sind allerdings nicht gesondert
gekennzeichnet. Seitenzahlen wurden für Internet-Quellen nur dort angegeben, wo sie eindeutig
identifizierbar waren, wie zum Beispiel in Dokumenten des pdf-Formates.
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