Blickt man in die Zeit zurück, als von der Kulturgeographie im Speziellen noch keine Rede war und die
Aufgabe des Geographen vorwiegend darin bestand, unbekannte Teile der Erde zu erkunden und dieses Wissen
für andere nutzbar zu machen (in der wörtlichen Übersetzung von Geograph als der die Erde
Beschreibende), findet man Wortschöpfungen und Verhaltensweisen, die sich später im Zusammenhang mit dem
Internet wiederfinden. Verstärkt treten diese Parallelen im Hinblick auf die europäischen
Eroberungsreisen im ausgehenden Mittelalter und die Forschungsreisen des 18. und 19. Jahrhunderts zu
Tage.
|
Im religiös dominierten Mittelalter erlebte die geographische Forschung in Europa einen herben
Rückschlag im Vergleich zur wissenschaftlichen Blüte in der Antike. Erst gegen Ende des Mittelalters,
mit dem Übergang zur Renaissance und der Abkehr von der Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe, konnte
sich die Wissenschaft aus den Zwängen der Religion lösen. Zur gleichen Zeit brach die Ära der Seefahrer
und Eroberer an, die durch ihre eigentlich politische Mission zur Erschließung bisher unbekannter Teile
der Erde beitrugen und somit von Grunde auf geographisch tätig waren. Die Erforschung neuer Territorien
fand ihr Ende, als weite Gebiete der Erdoberfläche erschlossen und den europäischen Herrschern
unterworfen waren.
|
Die moderne Geographie beginnt mit den Forschungsreisen Alexander von Humboldts. Mit seiner 1799
beginnenden Amerika-Reise, wurde er zum Vorbild für viele ihm nachfolgende Forscher. Ziel dieser Reisen
war nicht mehr, territoriale Besitzansprüche geltend zu machen, sondern die Eigenheiten der bis dato
fremden Länder zu ergründen, sie in ihrer Vielfalt zu erfassen und zu natürlichen Einheiten
zusammenzufassen (HETTNER, 1927). Nach der Zeit der Eroberungsreisen war nun die Zeit der
Forschungsreisen angebrochen und mit ihr eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den neu
erschlossenen Gebieten.
|
Betrachten wir diese von Grund auf unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Entdeckung einer neuen
Welt etwas genauer. Wie in der Einleitung schon kurz erwähnt, finden sich zwischen diesen frühen
geographischen Forschungstätigkeiten und dem Internet bereits auf der sprachlichen Ebene
Parallelen, wie das Beispiel der beiden momentan am häufigsten genutzten Browser, dem Netscape
Navigator und dem Internet Explorer zeigt. Was mag die Schöpfer dieser Software bewogen
haben, sich des Vokabulars der Schiffs- bzw. Entdeckungsreisen zu bedienen? Im speziellen Fall der
Benennung der Webbrowser fühlten sich die Autoren beim Navigieren im WWW eventuell an Christoph Kolumbus
erinnert, der bei seiner Suche nach der Ostindischen Küste unfreiwillig auf Amerika stieß, denn ähnlich
geht es vielen Surfern bei der Erkundung des Internet: Das Interesse ist auf ein konkretes Ziel
gerichtet, der Weg ist zu Beginn jedoch unbekannt. Hat man nicht das Glück, über einen direkten link
dorthin zu gelangen, muss der Umweg über einen Verzeichnisdienst oder eine dem Ziel naheliegende
Webseite gewählt werden. Auf diese Weise passiert es leicht, dass die Aufmerksamkeit vom eigentlichen
Ziel abgelenkt wird, weil man auf einen anderen interessanten Inhalt stößt (was für einen Entdecker
nicht immer von Nachteil sein muss, wie das Beispiel Kolumbus zeigt). Tatsache ist, dass beim Erkunden
des Internet ähnliche Unwegsamkeiten und Orientierungsschwierigkeiten bestehen, wie sie einst von den
Entdeckern der Neuen Welt vorgefunden wurden. Erst mit der Verbesserung der Navigationstechnik konnten
Orte gezielt angesteuert werden. Auch im Internet wird der Benutzer nur noch so lange auf Abwege
geraten, wie es für ihn unentdeckte Inhalte gibt und Informationen von Suchmaschinen nur partiell
aufgefunden werden können. Erst wenn eine Systematik vorhanden ist, die alle Informationen gezielt
zugänglich macht, wird man auf ein zufälliges Auffinden von Inhalten nicht mehr angewiesen sein.
Entwickelt sich die Masse der Internetinhalte in bisheriger Form weiter, besteht in absehbarer Zeit
allerdings kaum eine Gefahr, dass das Entdeckungspotenzial in dieser Hinsicht gemindert wird.
|
Sind im realen Leben die Eroberungsreisen den Forschungsreisen vorausgegangen, scheint es im Internet
genau umgekehrt zu sein. Bringt man den Sinn und Zweck der Eroberungsreisen auf den Nenner, dass bisher
unbekannte Gebiete der Erdoberfläche entdeckt und von der entdeckenden Nation in Besitz genommen werden,
kann man dieses Bild auf die Besetzung von Domain-Namen im Internet übertragen. Nebenbei bemerkt
begegnet uns auch hier wieder ein Begriff, der im herkömmlichen Sinn für die Beschreibung einer
räumlichen Einheit herangezogen wird (Domain in der Bedeutung von Gebiet, im Zusammenhang mit dem
Internet auch in der Form Domain Space als Namensraum übersetzt). Domain-Namen sind, wie
bereits geschildert, Teile der im alltäglichen Gebrauch verwendeten Internetadressen. Um eine Domain
sein Eigen nennen zu können, muss man sie registrieren lassen (für Domains der Top-Level Domain de
geschieht das zum Beispiel bei der DENIC Gesellschaft: http://www.denic.de). Natürlich kamen
geschäftstüchtige Leute auf die Idee, populäre Domains (zum Beispiel bekannte Firmennamen) auf ihren
Namen registrieren zu lassen, mit dem Gedanken, sie später an Interessenten zu überhöhten Preisen
weiterzuverkaufen ( BETTINGER, 1997). Diese als domain grabbing oder domain squatting
bezeichnete Handlungsweise erinnert in mancher Hinsicht an die Vorgehensweise der europäischen Eroberer,
die sich durch den Akt der Besetzung spätere Profite aus natürlichen Ressourcen oder die Vorteile einer
strategisch günstigen Lage sichern wollten. Blieb den Menschen in den eroberten Gebieten als einzige
Möglichkeit der Gegenwehr der kämpferische Widerstand, der oft in einer Niederlage endete, können sich
die heutigen Opfer der Internet-Conquistadores zum Teil auf national und international geltendes
Recht berufen und ihre Ansprüche durchsetzen. Dennoch existieren rechtliche Grauzonen und nicht selten
erhalten die Besetzer von Domain-Namen die von ihnen geforderte Geldsumme aufgrund der Tatsache, dass
sich die Betroffenen scheuen, rechtliche Schritte einzuleiten.
|
Warum lassen sich der Abschnitt der historischen Geographie bis zum 19. Jahrhundert und die genannten
Aspekte des Internet so gut miteinander vergleichen? Weil beiden gemeinsam ist, dass sie vor einem
unbekannten Raum stehen und sich ihnen zwei Handlungsalternativen eröffnen, um dieses neue Territorium
zu erschließen: Entweder die Herangehensweise mit einem wissenschaftlichen Ansatz oder das von der
Suche nach den größtmöglichen Profiten gelenkte Vorgehen eines Geschäftsmannes. Verfolgt man diese
Dualität weiter, stößt man auf einen Wertekonflikt über Zweck und Folgen des Internet im Allgemeinen.
Die einen sehen das Internet als Medium, das die Gleichberechtigung der Menschen fördern kann, andere
sehen im Internet eine Abbildung der Realität, die die sozialen Verhältnisse 1:1 widerspiegelt und
somit bestehende Ungleichheiten nicht beseitigt (RHEINGOLD, 1993). Gemeinsam ist beiden Positionen, dass
sie eine Verbindung und daraus resultierend eine Einflussmöglichkeit des Internet auf die reale Welt
sehen. Dieses Verhältnis vom sogenannten virtuellen Raum des Internet zum realen Raum soll
im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden. Dabei werden zunächst die bisher in der Geographie
verwendeten Raumbegriffe dargestellt, um im Anschluss daran die Konzepte des virtuellen Raumes mit den
geographischen Ansätzen zu vergleichen.
|
Ebenso wie der allgemeine Raumbegriff im Laufe der Zeit einen Wandel erfuhr, veränderte sich auch das
Verständnis vom Raum in der Geographie. Bis ins 18. Jahrhundert galt allein der physische Naturraum als
Untersuchungsobjekt geographischer Forschung, den es mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen
galt. Die Forschungen beschränkten sich dabei häufig auf eine deskriptive Erfassung der materiellen
Elemente der Erdoberfläche und die Untersuchung ihrer räumlichen Anordnung (auch als choristische
Vorgehensweise bezeichnet). Ausnahmen vom rein beschreibenden Ansatz bildeten Bereiche der Physischen
Geographie. Hier wurden schon früh Versuche unternommen, die erfassten Phänomene in ein theoretisches
System einzubinden. Ein Beispiel stellen Leonardo da Vincis Arbeiten aus dem 16. Jahrhundert dar, der
zum Beispiel aufgrund von Muschelfunden in Bergregionen Italiens eine Theorie über die einstige
Verbreitung der Meere aufstellte (HETTNER, 1927, S. 52).
|
In dieser Zeit, als die Geographie noch als einheitliche Disziplin gesehen wurde, dominierten im
heutigen Sinne physisch-geographische Inhalte und die Länderkunde weite Bereiche der Forschung. Dennoch
finden sich erste Ansätze, die für die spätere Ausprägung der Kulturgeographie von Bedeutung sind. Zu
nennen ist an dieser Stelle das Werk Immanuel Kants, der sich zwar auf geographischer Ebene
ausschließlich mit physisch-geographischen Themen beschäftigt hat, durch sein gleichzeitiges Wirken in
den Geisteswissenschaften aber dennoch eine erste Verbindung zwischen diesem Bereich und der Geographie
herstellte. Leider kam es in seinen geographischen Arbeiten nicht zu einer Verbindung der beiden
Richtungen. Für die spätere Kulturgeographie ist von Bedeutung, dass Kant seine Forschungen in der
Physischen Geographie, ganz im Zeichen der Aufklärung, unter das höhere Ziel gestellt sah, die
Erkenntnis über den Menschen zu vermehren. Sein Entwurf zu einem Werk über die Physische Geographie
enthält folgenden Satz:
Ich trage dieses zuerst in der natürlichen Ordnung der Klassen vor und gehe zuletzt in
geographischer Lehrart alle Länder der Erde durch, um die Neigungen der Menschen, die aus dem
Himmelsstriche, darin sie leben, herfließen, die Mannichfaltigkeit ihrer Vorurtheile und Denkungsart,
in so fern dieses Alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu
machen ..., darzulegen.
(Kant, 1757, Teil II, Zeile 18-30)
Damit war die Voraussetzung für eine Geographie geschaffen, die den Menschen nicht mehr als Element des
Naturraumes betrachtete, sondern die ihre gesamte Forschung in den Dienst des Menschen stellte. Infolge
dieser Neuorientierung war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Geographie Ansätze entwickelte, die
den Menschen selbst noch stärker in die Forschungen miteinbezog. Zwar war es nicht Kant, der diesen
disziplinären Wandel letztendlich vollzog, dennoch haben er und die Aufklärung der Geographie den Weg in
diese Richtung geebnet.
|
Neben der Hervorhebung des Faktors Mensch in der wissenschaftlichen Arbeit trug Kant auch dazu bei, die
Bedeutung der Geographie als Hochschulwissenschaft neu zu definieren. Grundlage dafür bildete sein Werk
Kritik der reinen Vernunft (KANT, 1787), in dem er die Lehre der Idealität von Zeit und Raum
formulierte, die zur Grundlage für seine Analyse der menschlichen Erkenntnis wurde. Das Ziel seiner
Forschung war es, die Bedingungen für eine reine Erkenntnis zu finden - eine Erkenntnis, die
ungetrübt von der Subjektivität menschlicher Wahrnehmung zum Fundament einer reinen Wissenschaft
werden sollte. Raum und Zeit bildeten dabei als Formen der reinen Anschauung den Ausgangspunkt für die
reine Erkenntnis. Für Kant waren sie deshalb Formen der reinen Anschauung, weil er sie nicht der
sinnlichen Wahrnehmung unterstellt sah. Sie bildeten für ihn im Gegenteil eine Vorbedingung für die
sinnliche Wahrnehmung, oder wie Kant selbst es ausdrückte: zwei Erkenntnißquellen, aus denen a
priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können (KANT, 1787, S. 87/ im
Original S. 63). Der Raum verlor damit seine bisherige physische Konsistenz im Sinne des Naturraumes und
wurde zur Abstraktion, die nur durch die menschliche Wahrnehmung existieren konnte. Dementsprechend galt
auch die Geographie Kant nicht mehr länger als eine Raumwissenschaft, stattdessen setzte er an ihre
Stelle die Geometrie. Da diese nicht auf der sinnlichen Wahrnehmung beruhte, sondern sich streng
analytischer Methoden bediente, galt sie als Beispiel der reinen Erkenntnis. Für die Geographie, die
sich im Gegensatz dazu fast ausschließlich mit empirischen Phänomenen befasste, sah Kant nur noch die
Funktion einer propädeutischen Hilfswissenschaft, für die kein Platz im System der reinen Erkenntnis war
(HETTNER, 1927, S. 115f. und WERLEN, 1993, 245f.).
|
Trotz des großen Einflusses Kants zu seiner Zeit blieb der physische Raumbegriff in der Geographie
dominierend. So findet sich bei Carl Ritter, der neben Alexander von Humboldt zu Anfang des 19.
Jahrhunderts einer der prägendsten Forscher in der Geographie war, folgende Definition der Disziplin:
|
Geographie sei ... die Lehre von der Raumerfüllung in ihren wesentlichen Verhältnissen und
in ihrer innern und äußern Gesetzmäßigkeit.
(Carl Ritter, 1852, zitiert nach WIRTH, 1979, S. 54)
Mit dem Begriff Raumerfüllung bezog sich Ritter in diesem Fall ausschließlich auf physische Faktoren,
wobei er aber betonte, dass es in der Geographie nicht um deren reine Erfassung gehe, sondern um die
Suche nach Gesetzmäßigkeiten. Auch Alexander von Humboldt orientierte sich in seinen Länderkunden an den
Prinzipien des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und obwohl er sich stärker in die
naturwissenschaftliche Richtung orientierte, findet man sowohl bei ihm, als auch bei Ritter die
ausdrückliche Einbeziehung des Menschen als Element des Naturraumes. Dieser Ansatz war ausschlaggebend
für das spätere Ansehen der beiden Forscher als Mitbegründer der modernen Geographie (BARTELS, 1968, S.
127). Die Betonung des wissenschaftlich systematischen Ansatzes hatte zur Folge, dass
naturwissenschaftliche Studien im akademischen Umfeld zu einem höheren Ansehen gelangten als
geisteswissenschaftliche. Die Physische Geographie und mit ihr der physische Raumbegriff dominierten bis
gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Disziplin.
|
Erste Ansätze einer kulturwissenschaftlichen Forschung blieben in dieser Zeit dem Konzept des Naturraums
verhaftet. Unter dem Eindruck der Evolutionstheorie Charles Darwins entwickelte sich in der Geographie
die Richtung des Naturdeterminismus, u.a. vertreten durch Friedrich Ratzel. In dieser Konzeption ist
der Mensch durch die natürlichen Bedingungen, die ihn umgeben, bestimmt, da er in hohem Maße den Kräften
der Natur ausgeliefert ist. Diese Ansätze, die den Menschen zum Zentrum der geographischen Forschung
machten, beschäftigten sich entsprechend mit der Identifizierung der das Individuum bestimmenden
natürlichen Faktoren (MASSEY/ALLEN, 1984, S. 2). Der Naturraum wurde somit erstmals mit einer Bedeutung
belegt, die ihm nicht mehr länger die Position eines neutralen Untersuchungsobjektes zuwies, sondern ihn
zu einem bestimmenden Faktor für die Entwicklung des Menschen und den Verlauf der Geschichte werden
ließ. Kritiker dieses Ansatzes entwarfen mit dem Possibilismus eine entschärfte Fassung des reinen
Naturdeterminismus, indem sie (unter anderem Vidal de la Blache) dem Menschen zugestanden, sich
unabhängig zwischen den in der Natur vorhandenen Wahlmöglichkeiten entscheiden zu können. Am Ende des
19. Jahrhunderts wurde der Begriff Raum demnach noch immer im Sinne des physischen Naturraumes benutzt.
|
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Auswirkungen der Industrialisierung, ausgehend von
Großbritannien, in ganz Europa zu spüren. Damit einher gingen tiefe gesellschaftliche Veränderungen, die
sich auch in räumlichen Strukturen und Prozessen niederschlugen. Wanderungsbewegungen vom Land in die
Stadt setzten ein, da die Landbevölkerung in den industriellen Produktionsanlagen der Stadt einen
Arbeitsmarkt sah, dessen Bedarf an Arbeitskräften unersättlich schien. Der massive Zuzug brachte die
Städte an die Grenzen ihrer Wohnraum- und Versorgungskapazitäten. In räumlicher Hinsicht schlugen sich
diese Probleme unter anderem in der Bildung von Arbeitervierteln nieder. Die verheerende
Wohnsituation dort zeigte, dass sich die Erwartungen der Arbeiter nicht erfüllt hatten und aufgrund zu
niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen Armut und Krankheit herrschten. Parallel zum Übergang
von der Agrar- zur Industriegesellschaft entwickelte sich, unter anderem auf die Gedanken Karl Marx'
gegründet, ein Wissenschaftszweig, der sich mit den durch die Transformation bedingten Problemen für
Mensch und Gesellschaft beschäftigte. Da die Bevölkerung in den Städten immer weniger mit der
Natur in Kontakt stand, sah die neue Forschungsrichtung den Menschen nicht mehr primär durch die
natürliche Ausstattung des Lebensraumes geprägt, sondern durch sein gesellschaftliches und ökonomisches
Umfeld. Darauf basierend entwickelten sich sogenannte sozialwissenschaftliche Ansätze, die entweder den
eben beschriebenen sozialdeterministischen Ansatz verfolgten oder im Gegensatz dazu jede
Determiniertheit ablehnten und die freie Entscheidungskraft des Individuums postulierten. Beide
Richtungen lehnten in jedem Fall den in der Geographie vertretenen Naturdeterminismus ab (WERLEN, 2000).
Neben der weitgehenden Unabhängigkeit der Stadtbevölkerung von der Natur verfügte auch die
Landbevölkerung über immer bessere Mittel, um die Kräfte der Natur zu kontrollieren. Damit liegt
es nahe, dass der Naturraum als bestimmender Faktor an Bedeutung verlor und soziale bzw. kulturelle
Faktoren in den Vordergrund traten. Die deutsche Geographie reagierte zunächst nicht auf diese
Entwicklungen und blieb bei ihrem Ansatz der Landschaftsforschung, bei der der Mensch weitgehend die
Funktionsstellung und den Rang einer bloßen Erklärungsursache materiell-landschaftlicher Sachverhalte
erhält (BARTELS, 1968, S. 131). Während sich in anderen Ländern die Forschung bereits auf
die neuen gesellschaftlichen Bedingungen einstellte, dominierte in Deutschland noch über die 30er Jahre
hinaus das Paradigma der naturräumlichen Untersuchungsgrundlage in der Geographie.
|
Welche Vorstellung vom Raum war charakteristisch für diese Zeit? Der Geograph Alfred Hettner behandelte
in seinem Werk Die Geographie - ihre Geschichte, ihr Wesen, ihre Methoden (1927) unter anderem die
aktuellen Forschungsansätze und die ihnen eigentümlichen Raumvorstellungen. Dabei stellte er fest:
Der Raum als solcher ist eine Anschauungsform; reale Bedeutung gewinnt er nur durch seinen
Inhalt!
(HETTNER, 1927, S. 128)
Aus dem Kontext genommen, könnte dieses Zitat als weitsichtige Feststellung gedeutet werden, in der
sogar der Kantsche Raumbegriff Berücksichtigung findet. Liest man das Zitat dagegen im Zusammenhang,
stellt man fest, dass sich Hettner mit diesem Satz gegen einen seiner Meinung nach zu abstrakten
Raumbegriff seines Kollegen Friedrich Ratzel wandte. In diesem Fall verstand er unter dem Begriff
Inhalt konkrete physische Phänomene und blieb damit dem bisherigen physischen Raumbegriff
verhaftet. Um seine Auffassung vom Raum verstehen zu können, müssen die Hintergründe in Hettners Werk
näher beleuchtet werden. An dieser Stelle sei auf WERLEN (1993) verwiesen, der sich mit Hettners
Interpretation von Kants Werk auseinandergesetzt hat und zu dem Schluss kommt, dass Hettner elementare
Gedanken Kants sehr frei interpretiert, um seinem Ziel näher"-zu"-kommen, die Geographie als
Hochschuldisziplin zu stärken. Insgesamt war Hettner sehr auf die Außenwirkung des Faches bedacht,
weswegen er es auch als seine Aufgabe betrachtete, der enstehenden Trennung in Physische Geographie und
Kulturgeographie entgegenzuwirken. In der Länderkunde sah er das einigende Prinzip und blieb folglich
Anhänger des Naturraum-Begriffes, worauf seine Definition der Geographie als chorologische oder
Raumwissenschaft hindeutet (HETTNER 1927, S. 117). Außer Frage steht für ihn, dass der Mensch ein
elementarer Teil der geographischen Analyse ist. Seiner Meinung nach widerspricht diesem Prinzip der
Ansatz Otto Schlüters:
Denn wenn man das Geistige herausläßt, so gehen der Geographie gerade Gebiete verloren, die sie
seit alters mit besonderem Eifer gepflegt hat, wie die politische Geographie, die Geographie der
Völkersitze und eigentlich auch die Verkehrs- und Handelsgeographie, ...
(HETTNER, 1927, S. 128).
Wie BECK (1982, S. 225ff.) feststellt, gründet sich die Ablehnung Hettners nicht unbedingt auf einen
Widerspruch zu Schlüters Ansatz, denn es lassen sich einige inhaltliche Übereinstimmungen in den beiden
Werken finden. Vielmehr scheint Hettner Schlüters Bemühungen um eine Stärkung einer eigenständigen
kulturgeographischen Forschung abzulehnen, die seinem Ziel, die Einheit der Geographie zu bewahren,
entgegenwirkten.
|
Obwohl Hettners Werk für die weitere geographische Forschung prägend ist, finden sich bereits vor dem 2.
Weltkrieg Konzeptionen, die von seiner Denkweise abweichen und im Raum, bzw. in räumlichen Einheiten,
abstrakte Elemente erkennen (WIRTH, 1979, S. 55). Ein schönes Beispiel findet sich in Norbert Krebs
Aufsatz Natur- und Kulturlandschaft (KREBS, 1923). Er vergleicht dort das Wesen einer
Landschaft mit den Teilen des menschlichen Körpers: ... Endlich, räumlich beschränkt, aber
qualitativ herausgehoben als Schmuck am Körper: die menschliche Siedlung im weitesten Sinne des Wortes.
Das ist alles sinnlich wahrnehmbar: das Sichtbare bleibt das Objekt der Betrachtung doch gehört zu
dessen Verständnis sehr häufig das Eindringen in rein geistige Dinge. (KREBS, 1923, S. 82/83).
Wie bereits erwähnt schreibt Hettner auch Ratzel zu, gelegentlich ... den Charakter der
Geographie als Raumwissenschaft in eigentümlich abstrakter Weise gefaßt zu haben, indem er die reinen
Eigenschaften des Raumes, nämlich die Längen und Entfernungen und die Form und Größe der Flächen im
Gegensatz zu den Verschiedenheiten des Inhaltes in den Vordergrund stellt. (HETTNER, 1927, S.
127). An diesen zwei Beispielen zeigt sich, dass die Abstraktion eines Raumes oder einer räumlichen
Einheit auf verschiedene Arten aufgefasst werden kann: In Ratzels Fall in mathematisch-abstrakter
Weise, bei Krebs als Abstraktion von Struktur und Funktion.
|
Für die bisherige Betrachtung kann als Zwischenbilanz festgestellt werden, dass der Raumbegriff in engem
Zusammenhang mit der Entwicklung der geographischen Inhalte steht. Solange sich die Geographie mit der
reinen Erdbeschreibung beschäftigte, galt der Naturraum als Untersuchungsobjekt. Mit den Anfängen der
modernen Geographie seit Alexander von Humboldt und Carl Ritter und damit der Einbeziehung des Faktors
Mensch entwickelten sich unterschiedliche Vorstellungen vom Begriff des Raumes, entsprechend
der einsetzenden Trennung der Disziplin in Physische Geographie und Kulturgeographie. Die Physische
Geographie blieb weiterhin dem Naturraum verhaftet, die Länderkunde bzw. Lanschaftsforschung nahm den
Menschen als den Naturraum verändernden Faktor in die Studien mit auf, aber erst mit den Vorläufern der
Kulturgeographie wurden unter der Einbeziehung des Menschen die relationalen und funktionalen Aspekte
des Raumes betont und damit erste Grundlagen für einen abstrakten Raumbegriff geschaffen.
|
Während man sich in Deutschland noch mit der Frage beschäftigte, ob die Aufgabe der Geographie als
Länderkunde oder als Landschaftskunde zu bezeichnen sei, begann in den USA eine Revision der
geographischen Inhalte. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung in der Chicagoer Schule, die sich mit den
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen beschäftigte, die durch die Industrialisierung hervorgerufen
worden waren. Die im Anfangsstadium ausschließlich aus soziologischer Sicht behandelten Problemfelder
konzentrierten sich auf den Untersuchungsraum Großstadt, in dem die Veränderungen besonders deutlich
hervortraten. Von Interesse war dabei nicht mehr die menschliche Determiniertheit durch die Natur,
sondern die Analyse der Anpassungsmechanismen des Menschen an seine Umwelt im Sinne der Darwinschen
Evolutionstheorie. Unter dem Begriff Umwelt wurde dabei die Gesamtheit aller auf den Menschen
einwirkenden natürlichen und nicht-natürlichen Faktoren verstanden. Analog zu den Adaptions- und
Selektionsmechanismen in der Tier- und Pflanzenwelt wurde für die Prozesse innerhalb menschlicher
Gesellschaften das Prinzip des survival of the fittest postuliert und der Begriff der
Sozialökologie geprägt.
|
Charakteristisch für die amerikanische Wissenschaft dieser Zeit war die Betonung der interdisziplinären
Forschung, bei der sowohl Inhalte, als auch Methoden von den Nachbardisziplinen übernommen wurden.
Darüber hinaus konnte in der wissenschaftlichen Arbeit ein Trend zur Theorie- und Modellbildung
festgestellt werden, der sich in der Geographie allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg in vollem Maße
durchsetzte. Dieser Paradigmenwechsel führte zu einer weitgehenden Trennung von Physischer Geographie
und Kulturgeographie und zu einer Abkehr vom Landschafts- bzw. Länderbegriff als Analyserahmen für die
Forschung. Die Konzentration der Untersuchung auf den städtischen Raum wurde von der Soziologie
übernommen. Der Anspruch der Theoriebildung machte es notwendig, räumliche Einheiten zu definieren,
denen bestimmte Phänomene zugeordnet wurden. Der Raumbegriff im Sinne des englischen Wortes space
trat zunächst vor dem Begriff area zurück. Als natural areas wurden physisch (zum
Beispiel durch Flüsse oder Verkehrswege) abgegrenzte Gebiete bezeichnet, in denen es aufgrund der
Abgrenzung zur Ausprägung eines gesellschaftlichen Merkmals kam. Social areas wurden sozial
homogene Gebiete genannt, die als Untersuchungsgegenstand dienen konnten (BARTELS, 1968, S. 172). Der
Raum wurde in diesem Sinne nicht mehr primär durch seinen Inhalt für die Geographie interessant, sondern
durch seine Funktion, einen Rahmen für die Analyse gesellschaftlicher Phänomene darzustellen.
|
Die vermehrte Modellbildung führte dazu, dass der abstrakte Raumbegriff in der geographischen Forschung
gegenüber dem physischen an Bedeutung gewann. Bereits in frühen wirtschaftsgeographischen Modellen, wie
dem Ringmodell von Thünen, wurde die Vielfalt des physischen Raumes auf ein abstraktes, universell
anwendbares räumliches Schema reduziert. Die in der Chicagoer Schule entstandenen Stadtstrukturmodelle
verfolgten dasselbe Prinzip: Funktionelle oder strukturelle Merkmale der Besiedlung dienten zur
Identifizierung einheitlicher Räume und somit als Basis für die Modelle, die räumliche Gesetze
widerspiegelten. Mit diesem Ansatz stand man in genauem Gegensatz zur Abgrenzung in der
Landschaftsforschung, die sich ausschließlich an naturräumlichen Einheiten orientierte. Damit wird klar,
dass sich die von Christaller bereits im Jahr 1933 aufgestellte Theorie der Zentralen Orte in
Deutschland aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades zunächst nicht durchsetzen konnte.
|
Während man sich in den USA und auch in Frankreich mit gesellschaftlichen Prozessen und deren
Raumbezug bewusst auseinandersetzte, trieb die deutsche Geographie nach 1933 auf ein Forschungsfeld zu,
das zwar auch das Verhältnis von Mensch und Raum untersuchte, jedoch nicht mehr auf wissenschaftlichen
Fundamenten ruhte, sondern von der Ideologie des Nationalsozialismus angetrieben wurde. Der Begriff des
Raumes findet sich in der ideologischen Prägung als Lebensraum einer Rasse und einem darin
eingeschlossenen Anspruch auf dieses Gebiet wieder. Der Geographie kam die Aufgabe zu, die
Verbundenheit von Blut und Boden zu belegen. Hans-Dietrich SCHULTZ (1980, S. 209) bezeichnete
die deutsche Geographie der 30er und 40er Jahre mit dem Begriff nationalpolitische Landschaftskunde
oder völkische Geographie.
|
Während der Begriff des Raumes im eben genannten Sinn über die Geographie hinaus im
politisch-ideologischen Bereich Anwendung fand, setzte in der Disziplin eine Revision des Raumbegriffs
ein. Es wurde bemängelt, dass der Begriff zu wenig klar definiert sei:
Wenige Ausdrücke werden in dieser Disziplin d.h. der Geographie so schwankend verwendet wie
der des Raumes, während er andererseits, in seltsamen logischen Widerspruch hierzu, doch zugleich als
ihr Fundamentalbegriff gilt.
(E. Winkler, 1937, zitiert nach SCHULTZ, 1980, S. 225).
Die Diskussion förderte zwei Positionen zu Tage: Auf der einen Seite plädierte unter anderem Heinrich
Schmitthenner für eine Rückkehr zum Landschaftsbegriff, dem nach seinen Worten primitiven
Vorstellungsraum, den uns die Raumerfahrung der Sinne ... vermittelt. (Schmitthenner,
1939, zitiert nach SCHULTZ, 1980, S. 225). Auf der anderen Seite setzte sich Walter Christaller für
eine Suche nach einem abstrakten Raumbegriff ein:
Wir müssen uns einen Raum gedanklich aufbauen, einen reinen Raum, wie die Physik sich ihren
eigenen abstrakten, nur im Denken existierenden Raum schafft.
(Christaller, 1941, zitiert nach SCHULTZ, 1980, S. 226).
Gemeinsam ist beiden Positionen, dass sie, ohne dies explizit auszudrücken, in der Neudefinierung des
Raumbegriffs eine Entpolitisierung der Geographie suchen. Um Abstand von der Ideologie des
Nationalsozialismus zu gewinnen, kehrte man zu scheinbar neutralen Begriffen zurück. Christaller
verwendete in diesem Zusammenhang das Attribut rein, was eventuell in einem doppelten Sinn gewertet
werden kann. Es ist hier nicht die Aufgabe, das Agieren der Geographie im Dritten Reich zu bewerten,
dennoch soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich die Wissenschaft mit der Zielsetzung der
Neutralität und Objektivität keinesfalls den realen politischen Verhältnissen entziehen kann, da Handeln
ebenso im gewollten Unterlassen und Dulden (WEBER, 1973, S. 99) bestehen kann. Dennoch sahen sich
die Geographen mit ihrer mehrheitlichen Rückkehr zum Landschaftsbegriff auf der richtigen Seite, mit dem
Ergebnis, dass es unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges zu keiner Neuorientierung in der
Disziplin kam und der seit den 30er und 40er Jahren beschrittene Weg weiter verfolgt wurde.
|
Da eine unmittelbare Neuorientierung der Geographie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ausblieb,
richtete die Forschung ihr Interesse erneut auf die Untersuchung der physischen Elemente der Landschaft.
Zwei Aspekte machten die Verwendung des Landschaftsbegriffs attraktiv: Zum einen bot er noch immer eine
Möglichkeit, um das Aufgabenfeld der Geographie gegen das anderer Sozialwissenschaften abzugrenzen, zum
anderen wurde es als Verdienst der Landschaftsgeographie gesehen, die Einheit der Geographie bisher
bewahrt zu haben (HARD, 1969, S. 262).
|
Was führte dazu, dass sich in den 60er und 70er Jahren trotz dieser Überzeugung ein Paradigmenwandel in
der Geographie vollziehen konnte? Wie konnte es trotz der Einheitsbestrebungen dazu kommen, dass sich
die Kulturgeographie und innerhalb von ihr eigenständige Fachrichtungen von der ganzheitlichen
Geographie lösen konnten? Auf der einen Seite wirkten die Anhänger der Landschaftsforschung selbst daran
mit, ihr Untersuchungsobjekt in Frage zu stellen, indem sie in den 50er Jahren eine neue
Diskussion über die Definition des Landschaftsbegriffes entfachten. Das Ergebnis war, dass sich die
früher scheinbar so selbstverständlich angewandten Begriffe der Landschafts- und Länderkunde jetzt erst
recht einer konkreten Definition entzogen. Gab es damals zum Beispiel keinen Zweifel daran, dass sich
eine Landschaft über eindeutige, größtenteils physische Kriterien abgrenzen lässt, wurden nun Stimmen
laut, die die Landschaftsgrenzen einzig durch das Interesse des Forschers bestimmt sahen (SCHULTZ, 1980,
S. 251ff.). Nachdem der Grundbegriff der Landschaftsforschung erst einmal in Frage gestellt war, konnte
man sich auch nicht mehr auf das Ziel berufen, die Einzelbetrachtungen zu einer umfassenden Synthese
zusammenzufügen. Um den Anspruch einer wissenschaftlichen Disziplin dennoch bewahren zu können, wich man
auf die Anerkennung des pluralistischen Charakters der Landschaften aus, ohne damit der Definition des
Landschaftsbegriffs näher gekommen zu sein. Endre Száva-Kováts kommt zu dem Schluss:
Die geographische Landschaft ist als Erscheinung keine objektive Realität, ihr Begriff ist eine
fiktive Konstruktion, deren theoretische Grundlage die unerwiesene irrige Ansicht von der Geosphäre als
einer Integration darstellt.
(SZAVA-KOVATS, 1960, S. 46)
Wie bereits erwähnt waren die Sozialwissenschaften in den USA im Gegensatz zu Deutschland bereits stark
an den Universitäten vertreten und übten von dort aus Einfluss auf die deutsche Wissenschaftslandschaft
aus. Nachdem der universalistische Anspruch der Landschaftsgeographie gebrochen war, konnten sich
Konzepte, die an den Sozialwissenschaften orientiert waren, innerhalb der Disziplin leichter
durchsetzen. Einen entscheidenden Anstoss für die Abkehr von der Landschaftsforschung gab die
Habilitationsschrift Dietrich Bartels aus dem Jahr 1968 mit dem Titel Zur wissenschaftstheoretischen
Grundlegung einer Geographie des Menschen. Der Titel zeigt, dass die Beantwortung der Frage nach der
wissenschaftlichen Legitimität und dem theoretischen Fundament der Geographie auch nach dem Scheitern
der Definition in der Landschaftsgeographie nach wie vor akut war. Wie stark das Bedürfnis nach der
Klärung dieser Grundlagen war, zeigten die Proteste beim Kieler Geographentag 1969, an dem Studenten
sich gegen die traditionelle Geographie erhoben und eine Neuorientierung in Richtung einer empirischen
Wissenschaft verlangten (WERLEN, 2000, S. 208). Wirth formulierte die Ansprüche der neuen geographischen
Wissenschaft wie folgt:
Nicht zunehmende Integration zu immer höherrangigen Komplexen, sondern zunehmende Abstraktion
von der unendlich komplexen Mannigfaltigkeit der realen Welt kennzeichnet die Arbeitsweise des
wissenschaftlichen Geographen.
(WIRTH, 1979, S. 167f.)
Die Neuorientierung in Richtung einer zunehmenden Abstraktion muss im Zusammenhang mit der Tatsache
gesehen werden, dass sich die Geographie nach dem 2. Weltkrieg an der Planung des Wiederaufbaus
Deutschlands zu beteiligen hatte. Da die bisherige geographische Arbeit darauf ausgerichtet war, die
Phänomene der Erdoberfläche zu erfassen und zu analysieren, und man im Gegensatz dazu jetzt gezwungen
war, handlungsorientiert zu arbeiten, mussten auch die Forschungsmethoden neu definiert werden. Die
empirischen Erkenntnismethoden der Sozialwissenschaften eröffneten die Möglichkeit, die Komplexität der
Wirklichkeit durch Modellbildungen zu reduzieren und schafften dadurch die Grundlage für ein
problemorientiertes Arbeiten. Der Ansatz der Landschaftsgeographie, der das Ziel hatte, die Phänomene
der Erdoberfläche in ihrer Gesamtheit zu erfassen, konnte für die Lösung dieser speziellen
Fragestellungen nicht angewandt werden.
|
Mit dem Methodenwechsel ging eine Abkehr vom Einheitsanspruch der Geographie einher. Da das Ziel der
Forschung nicht mehr auf eine möglichst umfassende Erhebung physischer Phänomene ausgerichtet war,
sondern es um die Lösung konkreter Probleme ging, wurde der universalistische Ansatz zugunsten der
Herausbildung von Spezialgebieten aufgegeben. So entwickelten sich unter anderem die Sozialgeographie
und die Wirtschaftsgeographie zu eigenständigen Forschungsbereichen. Es soll nicht übersehen werden,
dass es auch schon vor dieser Zeit vereinzelte Ansätze gab, die in diese Richtung wiesen, wie zum
Beispiel das Werk Christallers. Die Entwicklungen der 60er Jahre markierten also den Beginn der
Kulturgeographie im heutigen Sinn, deswegen soll von nun an gezielt von Kulturgeographie gesprochen
werden, wenn es sich um die Gesamtheit der sozialwissenschaftlich orientierten Teilbereiche der
Geographie handelt. Aufgrund der weitreichenden Folgen ist dieser Wechsel, bei dem nicht nur Begriffe,
sondern auch Methoden, Forschungsgebiete und das theoretische Fundament umgestaltet wurden, als
ein Paradigmenwechsel in der Geographie zu betrachten, der zwar das Ende der Geographie
markierte, aber die Entstehung der Kulturgeographie bedeutete.
|
Wie bereits erwähnt, sah sich die Kulturgeographie mit dem Anspruch konfrontiert, den Raum und seine
Inhalte nicht mehr nur zu beschreiben, sondern aktiv an seiner Gestaltung teilzunehmen. Welche
Auswirkungen dieser Wandel auf die kulturgeographische Forschung hatte, zeigt das Beispiel der in
den 60er Jahren entstandenen Münchner Sozialgeographischen Schule (WERLEN, 2000, S. 174), deren
Forschungen den Mensch und seine Bedürfnisse in das Zentrum der Arbeit stellte. Sogenannte
menschliche Daseinsgrundfunktionen (Versorgung, Arbeiten, Wohnen, Bildung, Erholung, Fortbewegung)
bildeten die Leitlinien für die räumliche Planung. Den Raumbegriff der Münchener Sozialgeographen
formulierten Ruppert und Schaffer wie folgt:
Der sozialgeographische Raum ist eine Abstraktion, seine Grenzen werden durch spezifische
Reaktionsreichweiten der sozialen Gruppen bestimmt, die ihre Daseinsfunktionen innerhalb eines
Gebietes entwickeln. Ändern sich die Reaktions-, Verhaltens- und Funktionsfelder der Gruppen, dann
wandeln sich zwangsläufig die Dimensionen des sozialgeographischen Raumes.
(RUPPERT/SCHAFFER, 1969, S. 211)
Damit war der Raum für die Kulturgeographie nicht mehr aufgrund seiner physischen Merkmale interessant,
sondern durch menschliche Handlungen, die in ihm stattfinden konnten. Dementsprechend fand die Bildung
von räumlichen Untersuchungseinheiten nicht mehr aufgrund physischer Gegebenheiten statt, wie es noch in
der Landschaftsforschung praktiziert wurde, sondern wegen der Ausprägung sozialer Phänomene. Das
Aufgreifen dieser nicht-materiellen Faktoren führte dazu, dass die Abstraktion des Raumbegriffs weiter
voranschritt.
|
Die Forschungsmethoden, die sich seit den 60er und 70er Jahren aus der neuen Perspektive ergaben, waren
vielfältig und existierten zum Teil parallel. Bei ihrer Vorstellung soll der Übersicht halber deswegen
an dieser Stelle die chronologische Darstellung der Entwicklung des Raumbegriffs durch eine
thematische Gliederung ergänzt werden. Ein Überblick über die Raumkonzepte, die erläutert werden sollen,
findet sich bei BARTELS (1974, S. 20). Mitte der 70er Jahre unterschied er vier Raumkonzepte:
- Raum als Wahrnehmungsgesamtheit in der Bedeutung des phyischen Raumbegriffs der
Landschaftsforschung
- Raum als Gegenspieler (Mensch-Natur), vor allem in der naturdeterministischen Sicht
benutzt
- Raum als dimensionaler Behälter, der vor allem durch Begriffe gekennzeichnet ist, die in
der empirischen Forschung Anwendung finden
- Raum als sozial-distanzielles Interaktionsgefüge, bei dem menschliche Entscheidungsprozesse
in die Analyse miteinbezogen werden
Anhand dieser Gliederung sollen im Folgenden die in den 70er Jahren angewandten Forschungsansätze und
die damit verbundenen Raumbegriffe dargestellt werden. Punkt 3) und 4) werden in diesem Fall
hervorgehoben, da sie für die weitere Entwicklung des abstrakten Raumbegriffs wichtig sind. Zu erwähnen
ist, dass in dieser Zeit sowohl der Landschaftsansatz, als auch der Raumbegriff im Sinne von Punkt 2),
der durch das Einsetzen der Umweltschutzdebatte zu neuer Bedeutung gelangte, weiterhin verfolgt wurden.
Da aber in beiden Fällen von einem physischen Raumbegriff ausgegangen wird, soll an dieser Stelle auf
diese beiden Richtungen nicht näher eingegangen werden. Konkret werden im Folgenden die Raumbegriffe des
quantitativen/raumwissenschaftlichen, des kognitiven und des postmodernen Ansatzes vorgestellt, sowie
das Konzept von der Auflösung des Raumes.
|
Die Übernahme der empirischen Forschungsmethoden aus den Sozialwissenschaften führte in der
Kulturgeographie, wie auch in anderen Disziplinen, zur Herausbildung eines sogenannten quantitativen
Ansatzes. Durch die Anwendung mathematisch-statistischer Methoden sollte die Nachprüfbarkeit
wissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Sinne des Positivismus erreicht werden. In der
Kulturgeographie führte die sogenannte Quantitative Revolution dazu, dass sich die Forschung
vor allem mit der Erhebung und Auswertung von Daten beschäftigte, die das räumliche Verhalten der
Menschen widerspiegelten. Die Aufgabe des Raumes war es, ähnlich wie schon beim Ansatz der Chicagoer
Schule, einen Rahmen für die Analyse menschlichen Verhaltens darzustellen.
Wer hier von Raum, Ort und Lage redet, meint Anordnung von Objekten im
Raum - und sonst nichts.
(HARD, 1973, S. 184)
Der Raum wurde in diesem Sinne auf Begriffe reduziert, die, wie Richtung, Distanz oder Verbindung, die
Lage oder Beziehung von Objekten im Raum beschrieben. Als Folge der empirischen Ausrichtung wurden die
Forschungsergebnisse der quantitativen Analysen häufig in statistische Terminologien gefasst. Begriffe
wie Streuungsmaß, Korrelationskoeffizient oder Zentralitätsmaß drückten somit räumliche
Verhältnisse oder Beziehungen aus. Nach der Einteilung der Raumkonzepte von Bartels handelt es sich
hierbei eindeutig um einen Raumbegriff im Sinne eines dimensionalen Behälters.
|
Der quantitative Ansatz stieß in der Kulturgeographie an die Grenzen seiner Anwendbarkeit, als er
allzu offensichtlich zu zweifelhaften Ergebnissen führte. Diese fehlerhaften Schlüsse waren darauf
zurückzuführen, dass räumliche Korrelationen nicht auf ihren Zufallscharakter hin überprüft,
sondern als ein kausaler Zusammenhang interpretiert wurden. In die Kritik geriet auch, dass nur
diejenigen Phänomene untersucht wurden, die mit quantitativen Methoden erfasst werden konnten. Damit
wurde eine Vorauswahl der Themenbereiche getroffen, die in wissenschaftlichem Verständnis nicht
vertretbar war (NEEF, 1981, S. 9). Wenn auch der Ansatz selbst in die Kritik geriet, so wurden dennoch
seine Methoden für die zukünftige Forschung als elementares Hilfsmittel beibehalten.
|
Im Gegensatz zum rein quantitativen Ansatz betonte der raumwissenschaftliche oder standorttheoretische
Ansatz statt der wissenschaftlichen Methoden die untersuchten Inhalte, in diesem Fall die
gesellschaftlichen Prozesse. Empirische Methoden bildeten die Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit,
so dass sich auch die Forscher des raumwissenschaftlichen Ansatzes bei ihren Untersuchungen auf jene
Bereiche konzentrierten, die mit den genannten Methoden erfasst werden konnten. Diese Selektion rief
dieselbe Kritik hervor, die auch schon in Bezug auf den quantitativen Ansatz geäußert wurde. Der Beitrag
zur Neuorientierung der Disziplin galt dagegen weitgehend als unbestreitbar. Bei der Betrachtung des
Raumbegriffs zeigt sich, dass die Basis der mathematisch-statistischen Arbeitsweise zu einer
Differenzierung des Raumbegriffs und zur Schaffung klar umrissener Begrifflichkeiten beigetragen hat.
BARTELS (1968) unterschied zum Beispiel zwischen Gebiet, Areal und Feld, wobei er unter einem
Gebiet den zu untersuchenden Ausschnitt der Erdoberfläche verstand, ein Areal durch eine bestimmte
Struktur oder Funktion gekennzeichnet sah und ein Feld sich für ihn durch das abgestufte Vorkommen eines
Sachverhaltes in einer räumlichen Einheit auszeichnete. Räumliche Einheiten waren also zum Teil an
Funktionen gebunden, konnten aber auch den Abgrenzungskriterien des Forschers unterliegen. Den
Zielsetzungen angemessen wurde die Art der räumlichen Darstellung ensprechend der Inhalte dimensioniert:
Ging es zum Beispiel um die funktionelle Differenzierung einer Stadt, wurde das Stadtgebiet als Fläche,
oder sogar als dreidimensionales Modell dargestellt, das in sich durch die funktionellen Aspekte
unterteilt wurde. War das Thema dagegen die Siedlungsstruktur eines Gebietes, konnten Städte oder Dörfer
punktuell erfasst werden und damit der Schwerpunkt auf das Verbreitungsmuster gelegt werden (BAHRENBERG,
1972, S. 15). Hard schloss daraus für das Ziel kulturgeographischer Forschung:
Im Rahmen der Geographie des Menschen richtet sich diese Perspektive auf den räumlichen Aspekt der
menschlichen Aktivitäten an der Erdoberfläche: Verbreitungs-, Verknüpfungs- und Ausbreitungsmuster (aus
Punkten, Linien, Flächen) werden studiert: einerseits als Determinanten, andererseits als Konsequenzen
menschlichen Handelns.
(HARD, 1973, S. 184)
Für dieses Forschungsziel war die Berücksichtigung des Faktors Zeit elementar. Damit konnte die
Raumwissenschaft den immer schneller von statten gehenden gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne
gerecht werden und so einen weiteren Bonus gegenüber der Länder- und Landschaftskunde erringen, die mit
ihren lang andauernden Untersuchungen und den weiträumig angelegten Untersuchungsgebieten an einen Punkt
gekommen war, an dem ein aktueller Stand der Forschung aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes nur noch
schwer zu halten war.
|
Der Raum verlor durch die Sichtweise, wie sie bei Hard formuliert wurde, einen Teil seines konkreten,
physischen Charakters und wurde zur abstrakten Projektionsfläche für gesellschaftliche Prozesse. Der
Zusammenhang von räumlichen Verhältnissen und gesellschaftlichen Bedingungen kam in dem Begriff
Sozialraum zum Ausdruck: Räumliche Veränderungen wurden als Zeichen gesellschaftlichen Wandels
gewertet. In diesem Sinne wiesen die Urbanisierungsprozesse am Ende des 19. Jahrhunderts auf
einen Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft hin (WERLEN, 2000, S. 256).
|
Dass sich die Kulturgeographie mit diesem Ansatz dem abstrakten Forschungsobjekt Gesellschaft zuwandte,
bedeutete nicht, dass sie den Blick für die konkreten Phänomene der physischen Welt verlor. Vielmehr
wurde der Raum als ein Zwischenglied in die Beobachtung eingeschaltet, das es möglich machte,
nichtgegenständliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, wie zum Beispiel funktionale Zusammenhänge
oder Hierarchien, sichtbar zu machen. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass der Raum die gesellschaftliche
Realität sowohl 1:1 abbilden kann, als auch durch eine gezielte Projektion ein schärferes Bild der
Realität erzeugen kann. Hier liegt der Vergleich mit der Kartographie nahe, in der prinzipiell in
ähnlicher Weise von der physischen Welt mittels einer Projektion ein neues Bild gewonnen wird. Die
Auswahl der Elemente, der Maßstab und die Art der Projektion hängen davon ab, welche Aspekte der
Realität dem Betrachter vermittelt werden sollen (SACK, 1980a, S. 5). Der geographische Charakter dieser
Art der Abstraktion ist bisher nie in Frage gestellt worden. Letztendlich könnte man folgern, dass auch
eine länder- oder landschaftskundliche Betrachtung nur eine Projektion ist, bei der der Forscher
zur Projektionsfläche für die von ihm wahrgenommene Realität wird und seine subjektive Wahrnehmung dazu
beiträgt, dass das Originalbild verzerrt wiedergegeben wird.
|
Dies führt zum wissenschaftstheoretischen Kontext, in dem der raumwissenschaftliche Ansatz zu sehen ist.
Indem sich der Wissenschaftler dazu bekennt, dass das Forschungsobjekt weitgehend von seinen Interessen
bestimmt ist, wird die Abkehr vom Postulat der objektiven Wissenschaft deutlich. Unter anderem
im Werk Max Webers wurde der Anspruch auf eine objektive, wertfreie Wissenschaft verworfen und die
Forderung an den Forscher gestellt, dass er die seiner Arbeit zugrunde liegenden Wertmaßstäbe offenlegt
(WEBER, 1904). Der Raum, früher als ein neutrales Objekt angesehen, erhält über die Definition des
Raumbegriffs durch den Forscher eine subjektive Prägung.
|
Nach der Einteilung der Raumkonzepte von Bartels ist der Raumbegriff des raumwissenschaftlichen Ansatzes
unter Punkt 4) als ein sozial-distanzielles Interaktionsgefüge zu begreifen, mit einem starken Einfluss
des empirischen Raumbegriffs im Sinne von Punkt 3). Neben der bereits erwähnten Kritik am
selektiven Charakter der Forschungsmethoden wurde den Vertretern des raumwissenschaftlichen Ansatzes
vorgeworfen, die Bestimmtheit des Menschen, wie sie im Naturdeterminismus angenommen wurde,
fortzusetzen, indem sie an die Stelle der Natur die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als prägenden
Faktor setzten. Beginnend in den 70er Jahren entwickelte sich ein Bewusstsein, das sich von der
Soziallastigkeit der 60er Jahre löste. Im Zuge dessen setzte in der wissenschaftlichen Forschung
ein Perspektivenwechsel ein, der den Schwerpunkt von der gesellschaftlichen zur individuellen Analyse
verlagerte.
|
Ein Auslöser für den Perspektivenwechsel in den 70er Jahren war das wachsende ökologische
Problembewusstsein. Umweltverschutzung, Energie- und Rüstungspolitik hatten in der Bevölkerung ein
Gefühl der massiven physischen Bedrohung des eigenen Lebens geweckt. Da man sich von der Politik im
Stich gelassen sah, entwickelte sich in Deutschland eine Bewegung, in der Bürger selbst für ihre
Forderungen eintraten. In der sogenannten Bürgerinitiativbewegung trat ein Bewusstsein zu Tage,
mit Hilfe dessen sich der Einzelne von seinem bisherigen gesellschaftlichen Umfeld löste, um sich einer
auf gleichen Interessen basierenden Gruppe anzuschließen, in der er eine Möglichkeit zur
Durchsetzung seiner individuellen Ziele sah. Die Ansprüche des Einzelnen wurden damit zur Grundlage für
die Bildung gesellschaftlicher Gruppen. Faktoren die diese Prozesse früher geprägt hatten, wie Herkunft,
Alter, Beruf traten in den Hintergrund.
|
Auch in der Kulturgeographie versuchte man dem neuen Stellenwert der Individualität und dem Bewusstsein
für ökologische Probleme gerecht zu werden. Dieser Wandel führte zu einem Rückgriff auf den physischen
Raumbegriff in den Teilbereichen der Geographie, in denen das Verhältnis Mensch-Umwelt und dessen
konkrete Problembereiche untersucht wurden (BOESCH, 1989, S. 144). Über diesen Forschungszweig floss auch
die Frage der individuellen Wahrnehmung des Raumes in die Analyse mit ein. Mit der Bezugnahme auf die
menschliche Raumwahrnehmung versuchte man sich von der naturwissenschaftlich-positivistischen Sichtweise
des raumwissenschaftlichen Ansatzes abzusetzen. Als Folge löste die Psychologie die Soziologie in der
Einbeziehung von Nachbarwissenschaften ab. Für den Raumbegriff ergaben sich durch diesen Wandel
unterschiedliche Konsequenzen. Eugen Wirth definierte die neuen Begrifflichkeiten wie folgt:
Die Termini -raum und -feld ( space und field) werden von den einzelnen
Autoren recht willkürlich und unsystematisch verwandt. Zur Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs
dürfte es sich empfehlen, immer dann von -feld zu sprechen, wenn die betreffende Raumeinheit
auf eine Person als Zentrum der Kontakte, Interaktionen und Informationen hin orientiert ist.
Dementsprechend wäre dann -raum eine Einheit ohne solchen eindeutigen zentralen
Bezugspunkt (z. B. Verkehrsgemeinschaft ).
(WIRTH, 1979, S. 209)
Wie das Zitat von Wirth zeigt, bildeten sich im Zuge der kognitiven Ansätze neue Begrifflichkeiten
heraus, die an den folgenden zwei Beispielen verdeutlicht werden sollen. Im Konzept von J. Sonnenfeld
bildet sich um das Individuum ein Komplex von Feldern, die eine unterschiedliche Ausdehnung im Raum
besitzen: Das Informationsfeld als weiträumigster Begriff umfasst alle Bereiche, über die der
Mensch direkt oder indirekt Informationen besitzt. Das Interaktionsfeld bezieht sich auf
Bereiche, zu denen eine wechselseitige Beziehung besteht, ohne dass es dabei zu einer
face-to-face Begegnung kommt. Die Gesamtheit derjenigen Örtlichkeiten und Menschen
(WIRTH, 1979, S. 217, eigene Hervorhebung) stellt schließlich das Kontaktfeld dar, das
vom Individuum persönlich aufgesucht wird oder mit dem es in direktem Kontakt steht. An diesem Beispiel
wird deutlich, dass die Deutung des Raumbegriffs eine weitere Abstraktion erfahren hatte: Mit dem Begriff
Feld wurde zwar noch immer eine räumliche Ausdehnung bezeichnet, Nähe oder Ferne wurden jetzt aber
nicht mehr über metrische Distanzen festgelegt, sondern über den Informationsgrad des Individuums.
Obwohl der Ansatz bereits aus dem Jahr 1972 stammt, deutete er Prozesse an, die heutzutage als
Informatisierung bezeichnet werden, was bedeutet, dass Informationen in ihrer wirtschaftlichen und
sozialen Bedeutung den Stellenwert konkreter Güter einnehmen. Eventuell würde heute die Unterscheidung
von persönlichen und nichtpersönlichen Kontakten nicht mehr so gravierend ausfallen, da letztere Form in
den vergangenen 30 Jahren ein Teil des Alltags geworden ist.
|
Eine ähnliche Richtung verfolgte auch der Ansatz der Perzeptionsgeographie, der als zweites Beispiel
vorgestellt werden soll. Stärker als im Ansatz von Sonnenfeld wurde die individuelle Wahrnehmung des
Raumes thematisiert und durch die Erstellung von mental maps erforscht. In der sogenannten
kognitiven Kartierung wurden Probanden vor die Aufgabe gestellt, Raumausschnitte ihres täglichen
Lebens nur aus der Erinnerung heraus zu kartieren. Untersucht wurde, inwieweit die eingezeichneten
Distanzverhältnisse mit denen der Realität übereinstimmten, bzw. welche Orientierungspunkte als markant
wahrgenommen und deshalb in die Karte aufgenommen wurden. Abweichungen oder Selektionen in den Karten
wurden auf das Wirken von Präferenzen und Abneigungen zurückgeführt (WERLEN, 2000, S. 286f.).
|
Der Begriff des Raumes wurde infolge der individualistischen Perspektive immer häufiger durch den
Terminus Umwelt ersetzt. Der Begriff Verhaltensumwelt sollte zum Beispiel den Ausschnitt
der Umwelt benennen, der Einfluss auf die Reaktion des Individuums ausübt (WERLEN, 2000, S. 285). Der
Begriff Umwelt wurde demnach zur Betonung der Rolle des Raumes verwandt, Einfluss auf das Verhalten des
Individuums auszuüben. Die Einordnung in das Schema der Raumkonzepte von Bartels ist an dieser
Stelle etwas schwierig zu vollziehen, da unter Punkt 4) explizit von einem sozial-distanziellen
Interaktionsgefüge die Rede ist und somit der gesellschaftliche Aspekt betont wird. Richtigerweise
müsste das Schema um einen Punkt erweitert werden, der den Raum als Einflussgröße für das
menschliche Handeln und Interaktionsraum beschreibt.
|
Die bereits angedeutete Pluralität der Forschungsansätze seit dem Ende der 60er Jahre ist ein
anhaltender Trend, der sich auch in der Gesellschaft wiederfinden lässt. Unter den Schlagworten
Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile setzte seit den 70er Jahren
eine Fragmentierung der Gesellschaft ein, die sich zunächst in den Städten ausprägte, in der Folge aber
zunehmend auch die ländliche Bevölkerung erfasste. Als Ergebnis dieser Entwicklung kam es zu einer
Koexistenz unterschiedlicher Lebenskonzepte in den früher homogenen gesellschaftlichen Gruppen. Die
wissenschaftstheoretische Richtung, die sich seit den 70er Jahren mit dem Phänomen der Pluralisierung
auseinandersetzt, wird als Postmoderne bezeichnet. Die Anerkennung der Pluralität wurde zum
Leitmotiv des Ansatzes, womit man sich von der Moderne absetzte, der die Vertreter der Postmoderne
vorwarfen, die Pluralität als Prinzip zwar festgestellt, sie aber zu Gunsten einheitsbildender
Metaerzählungen verworfen zu haben, anstatt sie zu akzeptieren (LYOTARD, 1994, S. 14). Deswegen
formulierte die Postmoderne kein einheitliches theoretisches Gedankengebäude, unter das die Vertreter
hätten zusammengefasst werden können (GREGORY, 1989, S. 67ff.). Eine strukturierte Betrachtung, die sich
auf inhaltliche Aspekte stützt, ist deswegen schwer zu bewerkstelligen, so dass es vonnöten sein wird,
einzelne Vertreter und ihren Ansatz gesondert zu betrachten.
|
Eine Art Gemeinplatz der Postmoderne ist ihre neo-marxistische Ausrichtung, doch schon im Grad der
Ausprägung unterscheiden sich die Autoren erheblich. Zentraler Begriff ist in allen Fällen die Macht
und die zu deren Erhaltung oder Erlangung dienenden Mittel. Die Funktion des Raumes ist es in
diesem Fall, den Menschen und seine Tätigkeiten für denjeningen sichtbar zu machen, der nach der Macht
strebt, um ihm dadurch die Kontrollmöglichkeit zu geben, ein Verhalten, das seine Macht in Frage stellt,
zu sanktionieren (FOUCAULT, 1992, S. 251f.). Postmoderne geographische Arbeiten, wie zum Beispiel die
Werke Edward Sojas oder Henri Lefebvres gehen gezielt auf die Funktion des Raumes ein. Lefebvre
formuliert in seinem Buch The Production of Space (im Original: La production de l'espace)
(LEFEBVRE, 1998) eine Weiterführung des traditionellen marxistischen Ansatzes, indem er der
Dualität von Gesellschaft und Geschichte die Instanz des Raumes hinzufügt; es entsteht der sogenannte
Thirdspace (SOJA, 1996, S. 31). Die Ablehnung von Dualitäten in der Postmoderne gründet sich auf
die Überzeugung, dass es jenseits der Entscheidung zwischen zwei absoluten Punkten immer eine dritte
Möglichkeit gibt, um jeglichen Absolutheitsanspruch der einen oder anderen Position zu brechen. Die
Ablehnung des klassischen Marxismus setzt sich fort in Lefebvres Ablehnung einer Philosophie, in der der
Mensch als scheinbar abstraktes Wesen behandelt wird. Mit der Einbeziehung des Raumes in seine Analyse
sieht er eine Möglichkeit, den konkreten Realitätsbezug in der marxistischen Philosophie
zurückzuerlangen:
The study of space offers an answer according to which the social relations of production have a
social existence to the extent that they have a spatial existence; they project themselves into a
space, becoming inscribed there, and in the process producing the space itself.
(Lefebvre zitiert nach SOJA, 1996, S. 46)
Der Mensch definiert sich demnach nicht nur aus Gesellschaft und Geschichte, sondern auch aus der
Räumlichkeit. Die Dreigliedrigkeit findet sich auch in Lefebvres Raumbegriff wieder. Zunächst
unterscheidet er zwischen dem physischen Naturraum, dem mentalen Raum und dem gesellschaftlichen Raum.
Die ersten beiden bilden für ihn den sogenanten Social Space, welcher wiederum drei Momente beinhaltet:
Spatial Practice, Representations of Space und Spaces of Representation. Diese Schlagworte
entsprechen der Dreigliedrigkeit des Raumes als Zusammensetzung aus dem wahrgenommenen, gedachten und
gelebten Raum. Dem Punkt Spatial Practice wird die bereits erwähnte Produktion von Raum
(Production of Space) zugeordnet. Hier wird über soziale Verhältnisse ein Raum erzeugt, der in weiten
Teilen mit empirischen Methoden untersucht werden kann. Representations of Space bezieht sich auf
einen strukturierten, geplanten Raum. Dies ist der Raum, in dem die Mechanismen der Macht wirken und
eine Kontrolle der Individuen möglich ist. Spaces of Representation oder auch der gelebte Raum
stellt die bereits geschilderte dritte Möglichkeit dar, die die ersten beiden Punkte vereint, ohne
dabei jedoch lediglich die Summe aus ihnen zu bilden. Soja beschreibt diesen Raum wie folgt:
Here then is space as directly lived, with all its intractability intact, a space that stretches
across the images and symbols that accompany it, the space of inhabitants and users. But it is
also ... inhabited and used by artists, writers, and philosophers - to which he would later add
ethnologists, anthropologists, psychoanalysts, and other students of such representational spaces
- who seek only to describe rather than decipher and actively transform the worlds we live in.
(SOJA, 1996, S. 67)
Dieser dritte Raumbegriff ist schwerer zu fassen als die beiden vorausgegangenen. Soja beschreibt ihn
als den Raum, der das Reale und Fiktive, Objekte und Gedanken verbindet und durch diese
multistrukturellen Verbindungen nicht mehr zugänglich für die Mechanismen der Macht ist. Der gelebte
Raum wird so zu einem Bereich, in dem sich Gegenräume (counterspaces) bilden können, die durch
ihre Position abseits der bestehenden Ordnung selbige bedrohen können (SOJA, 1996, S. 68).
|
Dieser kurze Überblick kann das Raumkonzept Lefebvres natürlich nicht erschöpfend darstellen, an den
herausgegriffenen Aspekten sollte jedoch deutlich geworden sein, in welcher Weise sich der postmoderne
Raumbegriff von den bisher behandelten unterscheidet. Grundsätzlich haben wir es mit einer Veränderung
der wissenschaftstheoretischen Ausgangsbedingungen zu tun, indem die Postmoderne von jeglichem
Wahrheits- und Absolutheitsanspruch Abstand nimmt und als einzig gültiges Prinzip die Anerkennung der
Pluralität sieht. Da die Pluralität in der realen Welt jedoch nicht zu einem gleichberechtigten
Nebeneinander führt, kommt die Macht als Einflussgröße ins Spiel. Der Raum kann in diesem Fall die
Funktion übernehmen, die Strukturen und Mechanismen der Macht zu offenbaren, weil er zum Träger ihrer
Kontrollmittel geworden ist (als Beispiel sei die visuelle Überwachung abgeschlossener Räume oder
eingegrenzter Territorien genannt). Wenn in diesem Abschnitt besonders der Ansatz Lefebvres
hervorgehoben wurde, zeigt dies einmal mehr die Unmöglichkeit, die Postmoderne als homogenes Phänomen zu
begreifen, bzw. den postmodernen Raumbegriff einheitlich darzustellen, ohne dabei im Speziellen auf die
Werke einzelner Vertreter einzugehen. Wenig überraschend ist nach dieser Analyse auch die Feststellung,
dass der postmoderne Raumbegriff im viergliedrigen Schema Bartels, das bisher als Vergleich diente,
nicht eindeutig zugeordnet werden kann: Die Funktion des Raumes im Sinne von Punkt 3) als dimensionaler
Behälter, erfasst den Begriff des Spatial Practice, zum anderen beinhaltet der postmoderne Raumbegriff
über den Umfang von Punkt 4) hinausgehende Aspekte, denn er kann nicht ausschließlich als
sozial-distanzielles Interaktionsgefüge bezeichnet werden. In diesem Fall müsste eine Erweiterung der
Einteilung in Richtung der politischen Dimension des Raumes, bzw. der Frage des Machteinflusses durch
den Raum erfolgen.
|
Die These von der Auflösung des Raumes wirft die Frage auf, ob der Raum für die Definition der
Kulturgeographie heutzutage überhaupt noch eine Rolle spielt. Wie in den vergangenen Abschnitten gezeigt
wurde, entwickelte sich der Raumbegriff seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zweigleisig: Zum einen
versuchte man den Bezug zum realen Raum zu wahren, zum anderen entwickelten sich aber immer mehr
Konzepte, die trotz des Raumbezuges abstrakte Phänomene in die Analyse mitaufnahmen, die mit empirischen
Methoden kaum noch zu fassen waren. Aus diesem Trend entwickelte sich die generelle Frage nach der
Relevanz des Raumbegriffs für die Kulturgeographie, bzw. die Suche nach der generellen Bedeutung des
Raumes für den Menschen der Gegenwart. Zwei Grundthesen sollen in diesem Zusammenhang dargestellt
werden: Zum einen die Aussage, dass räumliche Distanzen im 20. Jahrhundert aufgrund neuer
Kommunikations- und Transporttechnologien als handlungsbestimmende Faktoren an Bedeutung verlieren, zum
anderen die Frage nach den Konsequenzen dieser Entwicklung für die Kulturgeographie, die unter anderem
mit der Aussage Kulturgeographie ohne Raum beantwortet wurde.
|
Ausgangspunkt für die Idee, dass räumliche Distanzen an Bedeutung verlieren, war eine Erweiterung der
bisher ausschließlich metrischen Entfernungsmessung. Bereits in den 50er Jahren ging man dazu über,
Distanzen an Faktoren wie Zeit, Kosten oder menschlichen Interaktionen festzumachen (HARVEY, 1969, S.
210). Es entwickelten sich daraufhin Studien, die gezielt der Frage nach unterschiedlichen Konzepten des
Raum- und Distanzbegriffs in der Geographie nachgingen. Robert D. Sack stellte zum Beispiel fest, dass
sich die Auflösung des Raumes als Bezugsrahmen am schwindenen Bewusstsein des Menschen über die räumliche
Dimension seiner Handlungen festmachen ließe. Dieser Prozess würde hervorgerufen durch Technologien, die
es ermöglichten, Distanzen zu überbrücken, ohne dass man sich der zugrundeliegenden Technik bewusst sein
müsste und die es desweiteren ermöglichten, mit Personen zu kommunizieren, die man bisher nicht
persönlich getroffen hatte (SACK, 1980a, S. 16). Als Beispiel diente Sack das Telefon. Heute, 20 Jahre
später, können sämtliche neuen Kommunikationsmittel wie Telefax, Internet oder Videokonferenzen
hinzugefügt werden. Nach Sack führte dieser Prozess dazu, dass Handlungen wie die Nutzung der
Kommunikationsmittel nicht mehr als raumgebunden empfunden würden und es somit zu einer Loslösung vom
physischen Raum käme. Sack äußerte sich zu der Frage, welche Bereiche in dieser Situation für die
Kulturgeographie relevant seien wie folgt:
Some argue that mental states such as attitudes, values and ideas do not exist in space and do not
have spatial properties. Such facts, it is claimed, are different from material objects and things.
They may not be things in normal sense of the word. To this it could be countered that for us to
know about such states in others, we must observe their physical manifestations and hence their
corresponding spatial properties.
(SACK, 1980a, S. 18)
Sack gelangte in seiner Studie zu einem multiplen Raumbegriff, der sich auf die Art und Weise gründete,
in der eine Gesellschaft eine Verbindung von Handlung und Raum herstellt. Er unterschied zwischen
sophisticated-fragmented und unsophisticated-fused Konzepten. Erstere zeichnen sich dadurch
aus, dass Objekte und Handlungen zu einem gewissen Grad von ihrem räumlichen Bezug gelöst sind (zum
Beispiel in Industriegesellschaften), Zweitere sehen im Gegensatz dazu Objekt bzw. Handlung und Raum
miteinander verbunden (traditionelle Gesellschaften) (SACK, 1980a, S. 26f.). Da er auch an anderen
Stellen der kulturgeographischen Forschung eine wachsende Vielfalt an Raumbegriffen erkannte, forderte
er als zukünftige Aufgabe der Disziplin nicht nur die Raumbegriffe im westlichen Sinn zu erforschen,
sondern einen Analyserahmen für die gesamte Vielfalt der Begriffe zu schaffen (SACK, 1980b, S. 198).
Während Sack von einer Begriffspluralität ausging, versucht WERLEN (1993) die Kulturgeographie von der
Dominanz des Raumbegriffes zu lösen:
Nicht der Raum ist der Gegenstand geographischer Forschung, sondern die menschlichen Tätigkeiten
unter bestimmten sozialen und räumlichen Bedingungen.
(WERLEN, 1993, S. 241)
Entsprechend dieser Aussage vertritt Werlen einen handlungsorientierten Ansatz in der
Kulturgeographie. Als Begründung für eine Neuorientierung führt er den Übergang von der traditionellen
zur spät-modernen Gesellschaft an. In der folgenden Tabelle sind die Kriterien dargestellt, die Werlen
zur Unterscheidung der beiden Gesellschaftsformen heranzieht:
Traditionelle Gesellschaften (räumlich und zeitlich verankert) |
Spät-moderne Gesellschaften (räumlich und zeitlich entankert) |
Die lokale Gemeinschaft bildet den vertrauten Lebenskontext |
Das globale Dorf bildet den weitgehend anonymen Erfahrungskontext |
Kommunikation ist weitgehend an face-to-face Situationen gebunden |
Abstrakte Systeme ermöglichen soziale Beziehungen über große
räumlich-zeitliche Distanzen innerhalb der Risikogesellschaften |
Traditionen verknüpfen Vergangenheit und Zukunft |
Alltägliche Routinen erhalten die Seinsgewissheit |
Verwandtschaftsbeziehungen bilden ein organisatorisches Prinzip zur
Stabilisierung sozialer Bande in zeitlicher und räumlicher Hinsicht |
Global auftretende Generationskulturen |
Soziale Positionszuweisungen erfolgen primär über Herkunft, Alter, Geschlecht |
Soziale Positionszuweisungen erfolgen primär im Rahmen von
Produktionsprozessen |
Geringe inter-regionale Kommunikationsmöglichkeiten |
Weltweite Kommunikationssysteme |
Tabelle 3.1: Vergleich traditioneller und spät-moderner Gesellschaften nach WERLEN (1993).
|
Werlen kommt zu dem Schluss, dass spät-moderne Gesellschaften räumlich entankert sind. Statt deswegen
jedoch das Ende der Kulturgeographie zu postulieren und sich zum Beispiel der Soziologie zuzuwenden,
formt Werlen einen Raumbegriff, der der neuen Gesellschaftsform angepasst ist und sich auf die
Analyse menschlicher Handlungen konzentriert: Der Raum wird als formal-klassifikatorischer Begriff
bezeichnet, der dazu dient, die Ordnung der materiellen Dinge zu beschreiben und ein sprachliches
Kürzel für die Funktionalzusammenhänge der handlungszentrierten Sicht darzustellen.
Als Abgrenzung gegen die anderen Sozialwissenschaften führt er an, dass die Kulturgeographie den
physisch-materiellen Komponenten der Handlungskontexte in ihrer Räumlichkeit ... besondere
Aufmerksamkeit schenkt (WERLEN, 1993, S. 251). Er fordert damit einen Perspektivenwechsel, der den
Schwerpunkt kulturgeographischer Forschung auf die Analyse menschlichen Handelns legt. Er setzt sich
explizit von der handlungsorientierten Raumwissenschaft ab und fordert im Gegensatz
dazu eine raumorientierte Handlungswissenschaft (WERLEN, 2000, S. 310). Er findet so eine
Möglichkeit, nicht-materielle Phänomene in der Kulturgeographie zu berücksichtigen, indem er sie über
ihre Bedeutung für das Handeln des Menschen auf ihre räumlichen Komponenten hin untersucht. Dass dieser
Ansatz nicht ein Ende der Materialität in der kulturgeographischen Forschung bedeutet, formuliert er wie
folgt:
Auch wenn die natürlichen Dinge immer nur zugewiesene Bedeutungen aufweisen können, stellen sie
für viele unserer Tätigkeiten eine nicht hintergehbare Bedingung dar, weil wir aufgrund unserer
eigenen Körperlichkeit selbst auch Bestandteil der Welt der Körper sind. Insofern sind wir bei der
Ausführung unserer Tätigkeiten immer wieder mit räumlichen Konstellationen konfrontiert.
(WERLEN, 2000, S. 308)
Der Vollständigkeit halber soll auch in diesem Fall der Vergleich zum viergegliederten Schema Bartels
gezogen werden. Da der handlungsorientierte Ansatz Werlens als eine Weiterführung des kognitiven
Ansatzes gesehen werden kann, müsste auch hier eine Erweiterung des Schemas stattfinden. Die schon
dort vorgeschlagene Formulierung Raum als Einflussgröße für menschliches Handeln kann auch in
diesem Fall angewandt werden.
|
Das Ziel der vergangenen Kapitel war, die bisherige Entwicklung des Raumbegriffs in der Kulturgeographie
zu verfolgen. Es zeigte sich, dass sowohl in der Dimension, als auch in der Anwendung des Begriffs eine
ständige Veränderung stattfand. Der Raumbegriff war abhängig von den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen und der allgemeinen wissenschaftlichen Forschungsorientierung. Durch die Veränderung
einer der beiden Faktoren ergab sich in den meisten Fällen ein Richtungswechsel in der Kulturgeographie.
So bedingte zum Beispiel die Industrialisierung eine verstärkt problemorientierte, auf den Menschen
gerichtete kulturgeographische Forschung und die allgemeine quantitative Revolution eine Übernahme neuer
Methoden. Um dem Anspruch einer Sozialwissenschaft gerecht zu werden, muss die Disziplin auf aktuelle
gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Momentan scheint es allerdings, als hätte die deutsche
Kulturgeographie den Anschluss an eine wichtige Veränderung verpasst: den Prozess der Informatisierung.
Zwar zeigen sich Geographen im Einsatz mit den neuen Technologien und Medien engagierter als Mitglieder
anderer Disziplinen, dennoch blieb eine Revision der Einflüsse auf die fachlichen Inhalte bisher
weitgehend aus. Von vereinzelten Stimmen innerhalb der Disziplin und von fachfremder Seite wurde die
Notwendigkeit dessen an die Kulturgeographie herangetragen (siehe zum Beispiel Gero von RANDOW, 2000).
Um dieser Forderung entgegenzukommen, sollen im Folgenden die Grundlagen des Informatisierungsprozesses
dargelegt werden. Dabei soll die Analyse des gesellschaftlichen Wandels wie in den vergangenen Kapiteln
eine Basis schaffen, um auf die Implikationen für die Kulturgeographie schließen zu können.
|
Um sich dem Prozess des gesellschaftlichen Wandels durch die Informatisierung zu nähern, muss man sich
zunächst durch ein scheinbar undurchdringliches Dickicht von Begriffen kämpfen: Globalisierung,
Informationsgesellschaft, digitale Revolution, Wissensgesellschaft, um nur einige zu nennen. Den Kern der
Sache weist bereits das im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Konzept der spät-modernen Gesellschaft
von Werlen aus (Tabelle 3.1), welches den Menschen durch seine Eingebundenheit in ein weltweites Bezugs-
und Interaktionssystem charakterisiert sieht, in dem politische Macht zunehmend von ökonomischen Kräften
übernommen wird. Durch den Einsatz eines hochentwickelten Kommunikationssystems sinkt die Bedeutung
räumlicher Distanzen. Aus diesem allgemeinen Prozess können durch Verwendung bestimmter Begriffe
einzelne Aspekte hervorgehoben werden: Die Bezeichnung Globalisierung zielt dabei vor allem auf
das Anwachsen weltweiter ökonomischer Verflechtungen und die Etablierung einer Art Universalkultur ab,
die mit der globalen Verbreitung einheitlicher, vorwiegend amerikanisch geprägter Produkte und
Lebensstile einhergeht. Der Begriff Risikogesellschaft betont, dass die Folgen technologischen
Fortschritts nicht immer im Voraus kalkulierbar sind und zu Risiken führen können, deren Auswirkungen
den lokalen Maßstab überschreiten und zu einer potenziellen weltweiten Bedrohung werden (PONGS, 1999).
Beide Konzepte rücken das Individuum in eine weitgehend passive Rolle und weisen der Politik schwindende
Gestaltungsmöglichkeiten zu. Als Spielball einer allmächtigen Ökonomie bleiben dem Menschen ähnlich
wie im naturdeterministischen Ansatz der Geographie nur geringe Freiheiten, wobei er sich zudem von der
Politik im Stich gelassen sieht.
|
Betrachtet man den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland, schlägt sich die Veränderung in Faktoren
wie dem geringer werdenden Interesse der Bürger an politischen Themen und einer veränderten
Beschäftigungsstruktur nieder. Ein weiteres Phänomen ist das umsichgreifende Börsenfieber. Der private
Börsengang scheint den Eindruck zu vermitteln, als könne man als Individuum an den Gewinnen der
Weltwirtschaft teilhaben und müsse sich nicht mehr länger als deren Opfer betrachten. Auch die
vermehrte Nutzung des Internet weist auf ein Bestreben hin, sich aus der bisher empfundenen Passivität
zu befreien und die Berieselung des Fernsehers durch die aktive Bestimmung der Inhalte am Computer zu
ersetzen. Daneben scheint eine wahre Kommunikations-Manie ausgebrochen zu sein, die sich im
momentanen Mobiltelefon-Boom äußert. Das Internet ist ebenfalls Teil dieser Entwicklung, da seine
Hauptfunktionen darin bestehen, Kommunikation auf unterschiedliche Arten zu ermöglichen,
zum Beispiel durch E-Mail, Chaträume oder Videokonferenzen.
|
Bei genauer Betrachtung stellt man recht schnell fest, dass Inhalte bei dieser Form der Kommunikation
häufig in den Hintergrund treten und es vorwiegend darum geht, die Verfügbarkeit des Mediums zu
demonstrieren. Beim Anblick dieser Sachlage kann man sich die Frage stellen, ob der Fernseh-Konsum der
80er und 90er Jahre dafür verantwortlich ist, dass die Fähigkeit ein Gespräch zu führen in Teilen der
Bevölkerung verloren gegangen zu sein scheint. Das Phänomen schweigende Seminarteilnehmer an
Hochschulen zeigt, dass dies keinesfalls eine Frage des Bildungsstandes ist. Aufgrund dieser Tendenzen
ist es angebracht, nicht von einer Wissensgesellschaft zu sprechen, da diese von einem Streben
der gesamten Gesellschaft nach Wissen ausgeht, sondern den Begriff der Informationsgesellschaft
zu verwenden, der immerhin die Deutung zulässt, dass momentan eine sehr große Menge an Daten
verfügbar ist, ohne damit etwas über deren Nutzung oder Anwendung in der Bevölkerung auszusagen.
Festzuhalten bleibt, dass momentan sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene noch nicht
abzusehen ist, ob sich das Internet in allen Teilen der Gesellschaft gleichmäßig ausbreiten wird oder ob
es zu einem sogenannten Digital Divide kommt, der die Gesellschaft in diejenigen, die Zugang
zu den Informationen haben und jene, die keinen Zugang besitzen, spaltet.
|
Wie reagiert die kulturgeographische Forschung auf diese gesellschaftlichen Veränderungen? Durch die
wachsende Bedeutung der Weltwirtschaft findet immer häufiger auch außerhalb der klassischen
Wirtschaftsgeographie eine Betonung ökonomischer Aspekte statt. Hierbei wird zum Großteil
nach den räumlichen Auswirkungen des Globalisierungsprozesses gesucht. Momentan werden vor allem die
Makrostrukturen des Phänomens Globalisierung erfasst. Eine Differenzierung des Prozesses findet im
Wesentlichen in Bereichen statt, in denen wirtschaftliche Strukturen untersucht werden, unter anderem in
der Analyse veränderter Betriebsstrukturen, Produktpaletten, Absatzmärkte, Produktzyklen,
Transportwege und -mittel. Das Internet wird dabei unter dem Punkt Infrastruktur abgehandelt,
wobei es in diesem Fall einzig um die Verfügbarkeit des Internetzugangs geht, in seltenen Fällen
zusätzlich um die Qualität des vorhandenen Zugangs. Auf stadt- und sozialgeographischer Ebene
wird das Internet nicht explizit hervorgehoben, sondern nur im Zusammenhang mit den allgemeinen
Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologien betrachtet. In diesen Untersuchungen stehen deswegen
nicht die Besonderheiten einzelner Medien zur Debatte, sondern das Phänomen der Kommunikation als Ganzes.
|
Wo kann eine spezielle Erforschung des Internet durch die Kulturgeographie ansetzen? Wenn man der
Vorgehensweise der vergangenen Kapitel folgt, sollte eine Überprüfung der räumlichen Aspekte des Internet
zu einer Klärung beitragen. Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass sich der kulturgeographische Begriff
des Raumes je nach Definition vom konkreten Naturraum bis hin zum abstrakten Raum der mental maps
erstrecken kann. Das folgende Zitat zeigt, dass sich der vom Internet eingenommene Raum im gesamten
Spektrum wiederfindet:
Where is the internet? It is everywhere, as businesses and households even in the remotest parts
of the world are discovering how internet technology revolutionizes communication. But it is also
nowhere, with its nearly invisible infrastructure and its ephemeral content. Together, its
apparent ubiquity and invisibility give its users a sense of placelessness, of freedom from the
traditional constraints of physical distance. But this placelessness is an illusion. The internet is
where its users are.
(KOLKO, 1999, S. 2)
Ein Teil des Internet ist über technische Einrichtungen, wie das Kabelnetz oder Satellitenanlagen und
den Menschen als Benutzer im physischen Raum verankert. Dagegen bildet die Gesamtheit der Daten,
die über das Internet zugänglich sind, einen abstrakten Raum, der zur virtuellen Welt des
Internet wird. Für die Benennung dieses abstrakten Datenraumes haben sich zwei Begriffe herausgebildet:
virtueller Raum und Cyberspace. Im Folgenden soll geklärt werden, was unter den Begriffen zu verstehen
ist, wie der virtuelle Raum mit dem realen Raum in Verbindung steht, was das räumliche an den
beschriebenen Phänomenen ist, und welche Konsequenzen sich aus diesen Aspekten für eine potentielle
Untersuchung des Internet durch die Kulturgeographie ergeben.
|
Bei der Klärung der begrifflichen Grundlagen, stößt man auf eine Vielzahl von Definitionen des
virtuellen Raumes und des Cyberspace. Eindeutig lässt sich nur der Ursprung des Begriffs Cyberspace
klären, der aus dem literarisch-naturwissenschaftlichen Grenzbereich des Sciencefictionromanes stammt.
William Gibson erwähnte den Begriff in seinem Roman Neuromancer zum ersten Mal:
Die Matrix hat ihre Wurzeln in primitiven Videospielen, sagte der Sprecher, in frühen
Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden. ...
Kyberspace. Unwillkürliche Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden Berechtigten in allen
Ländern, .... Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen in den Nicht-Raum des Verstandes
gepackt, gruppierte Datenpakete. Wie die fliehenden Lichter einer Stadt... Was ist das?
fragte Molly, als er den Kanalwahlschalter betätigte. Kinderprogramm.
(GIBSON, 1998, S. 76)
Der Cyberspace gilt im Roman als ein weltweit vernetzter, abstrakter Datenraum, der über die direkte
Verbindung eines Terminals mit dem menschlichen Nervensystem zugänglich wird. HENNING (1997)
betont, dass Cyberspace im heutigen Gebrauch vorwiegend die weltweite Vernetzung von Daten
beschreibt und der Aspekt des Zugangs über neuronale Sensoren in den Hintergrund getreten ist. Außerdem
weist er darauf hin, dass seiner Einschätzung nach mit dem Attribut cyber alles versehen wird, was
sich in eine Steckdose stecken läßt und die Zielgruppe der Nintendo-Generation im Visier hat
(HENNING, 1997, S. 17f.). Sieht man von diesem werbewirksamen Gebrauch des Begriffs ab, kommt der
Cyberspace in seinem ursprünglichen Sinne eines weltweiten Datennetzes dem Internet recht nahe. Gibson
beschreibt den Cyberspace in seinem Roman als einen auf graphischer Darstellung basierenden Datenraum.
Bedenkt man, dass das Buch zum ersten Mal im Jahr 1984 erschienen ist, kann man Gibsons Konzept als
eine Vorwegnahme des erst fünf Jahre später entstehenden World Wide Web sehen, das die breite Nutzung
des Internet über eine graphische Oberfläche möglich macht.
|
Es gibt aber auch andere Auffassungen davon, was unter dem Begriff Cyberspace zu verstehen ist. MÜNKER
(1997, S. 108) sieht ihn als radikalste Version der virtuellen Realität. Um dieser These folgen zu
können, muss zunächst der Begriff der virtuellen Realität bzw. des virtuellen Raumes erläutert werden.
Auch hier trifft man auf eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen. Einig sind sich die Autoren
darüber, dass der Begriff der virtuellen Realität auf den ersten Blick einen Widerspruch darstellt, da
sich Virtualität und Realität gänzlich auszuschließen scheinen. Die Erklärungen des Attributes
virtuell reichen dabei von scheinbar (HUBER, 1994, S. 126), physikalisch nicht existent
(HENNING, 1997, S. 13), bis hin zu in sich die Möglichkeit zur Verwirklichung tragend
(CADOZ, 1998, S. 8) und möglich (MÜNKER, 1997, S. 109). Nachdem eine derartig breite
Palette an Definitionen zur Verfügung steht, kann der virtuelle Raum im Extremfall als alles oder nichts
ausgelegt werden. An dieser Stelle scheint es deswegen vonnöten zu sein, eine eigene Darlegung
des Begriffs vorzunehmen.
|
Im ursprünglichen Sinn stellte man sich unter der virtuellen Realität eine computergenerierte Simulation
vor, die dem Menschen den Eindruck vermitteln sollte, sich in der erzeugten Realität wie in der
physischen Welt bewegen zu können. Das Ziel war, einen möglichst hohen Immersionsgrad zu
erreichen, das bedeutet, den Grad, in dem sich der Mensch physisch und psychisch in die Simulation
eingebunden fühlt, zu erhöhen (CADOZ, 1998, S. 9ff.). Durch dem Terminus virtueller Raum wird
betont, dass sich die Simulation einer Wiedergabe der optischen Strukturen realer Räume bedient. Mit
zunehmender Verbesserung der technischen Ausstattung wurde es möglich, der visuellen Simulation weitere
sensorische Reize hinzuzufügen. Die Forschungen dieses Wissenschaftszweiges konzentrieren sich auf die
Entwicklung technischer Geräte wie Datenhelme, Datenhandschuhe oder Datenanzüge, mit deren Hilfe sowohl
die Übertragung der menschlichen Aktionen auf den virtuellen Raum möglich wird, als auch die Impulse des
virtuellen Raumes an den Menschen weitergeleitet werden können. Dieser Begriff der virtuellen Realität
basiert also vorwiegend auf technischen Faktoren und konzentriert sich auf die Entwicklung
praxisbezogener Anwendungen, wie zum Beispiel virtuelle Einkaufszentren, virtuelle Modelle für die
Produktentwicklung oder architektonische Planung von Gebäuden, aber auch auf abstrakte Aufgaben,
wie die Visualisierung von Betriebsabläufen (HENNING, 1997, S. 44ff.). In der Kulturgeographie finden
virtuelle Modelle unter anderem in der Stadtplanung Anwendung, wo man zum Beispiel sanierungsbedürftige
Gebäudekomplexe am Computer nachbildet, um am Modell architektonische Varianten zu erproben, bzw. um
einen Gesamteindruck des sanierten Objekts in seiner bestehenden Umgebung zu erlangen. Vor allem die
leichte Modifizierbarkeit des Computermodells stellt im Vergleich zu einem materiellen Modell eine
Arbeitserleichterung dar und gibt den Planern mehr Spielraum für Variationen (BRENNER/HAALA, 1999). In
diesem Sinne kann die virtuelle Realität tatsächlich im Sinne der oben genannten Definitionen
nach Cadoz als die Möglichkeit der Verwirklichung in sich tragend bezeichnet werden.
|
Neben dieser anwendungsorientierten Auffassung der virtuellen Realität bildet sich im Bezug auf das
Internet eine neue Prägung des Begriffs heraus. Wenn das Internet als virtuelle Realität bezeichnet
wird, gründet sich dies auf die Tatsache, dass das Medium weitgehend auf Computergenerierung basiert,
das heißt, dass weite Teile nicht im klassischen Sinn als physisch existent bezeichnet werden können.
Die virtuelle Realität des Internet verfolgt nicht den Zweck, die Wirklichkeit möglichst detailgetreu
wiederzugeben, sondern bezieht sich in diesem Kontext auf die Verlagerung physischer Aktionen in einen
datenbasierten Raum. Der Begriff virtuell betont demgemäß nicht den Aspekt der möglichen
Verwirklichung, sondern die Tatsache, dass etwas nicht im klassischen Sinn als physisch bezeichnet
werden kann. Diese Verlagerung führt allerdings nicht etwa in die Metaphysik oder zu einer Abkehr von
der Realität, sondern in eine Art Transphysik, die sich auf einer Ebene mit dem Physischen befindet
und mit selbigem in Wechselbeziehung stehen kann. Nur wenn der virtuelle Raum keine Verbindung zum
physischen Raum besitzt, kann er als rein virtueller Raum bezeichnet werden. Ein rein virtueller
Raum kann in der Praxis jedoch kaum existieren, da Computeranwendungen, wie die Dienste des
Internet, durch ihren menschlichen Benutzer immer mit der physischen Welt verbunden sind.
|
Eine Bedingung für die Existenz des Internet ist das Vorhandensein von Übertragungsmedien wie
Datenleitungen, Satelliten oder Funkverbindungen, die eine weitere physisch-räumliche Komponente
darstellen. Generell gilt zu bedenken, dass jegliche Aktion im Internet an menschliche Handlungen
geknüpft ist und Konsequenzen für die physische Welt haben kann. Man denke an eine Online-Bestellung:
Der Vorgang der Bestellung an sich kann ohne die Bewegung physischer Materialien vollzogen werden, der
Prozess, der dadurch initialisiert wird (Artikel aus dem Lager holen, Verpacken, Verschicken), läuft
trotzdem weitgehend in der physischen Welt ab. Deswegen kann festgestellt werden, dass es sich bei der
virtuellen Realität des Internet keinesfalls um eine Fiktion handelt, sondern dass sie über den Mensch
als Akteur und der zugrundeliegenden physischen Infrastruktur in Wechselbeziehung mit dem physischen
Raum steht und damit real ist.
|
Wenden wir uns der Frage zu, was das charakteristisch räumliche am virtuellen Raum ist. In der
Literatur finden sich hierzu nur wenig Erklärungen. Wie selbstverständlich wird über die weltweite
Vernetzung in räumlichen Metaphern gesprochen. Saskia Sassen nennt ihn den elektronischen Raum, ein
Ort, der durch Machtverteilung charakterisiert ist, durch die Abwesenheit von Hierarchie
(SASSEN, 1997, S. 215). Florian Rötzer stellt den virtuellen Raum in eine Reihe mit dem Erdraum
und dem Weltraum, indem er den Aufbruch in den Cyberspace als eine Fortsetzung der amerikanischen
territorialen Expansionsbestrebungen sieht (RÖTZER, 1997, S. 370f.). Martin Dodge und Narushige Shiode
bestimmen den Raum des Internet durch die Lokalisierung der IP-Adressen im physischen Raum
(DODGE/SHIODE, 2000, S. 44f.). Dies scheint im Kern jedoch noch immer nicht die Verwendung der
Raummetapher zu erklären. Greifen wir noch einmal die Vorstellung Rötzers auf, den virtuellen Raum des
Internet als Fortsetzung des Erdraumes und des Weltraumes zu betrachten. Das Bindeglied für alle drei
Räume stellen in diesem Fall menschliche Handlungen und Verhaltensweisen dar, die von einem Raum zum
nächsten scheinbar nahtlos ineinander übergehen können. Der Raum wird somit durch menschliches Handeln
existent und im Kantschen Sinne zu einer Vorbedingung für die Wahrnehmung menschlichen Handelns.
|
Da der Mensch auf einer grundlegenden Ebene in den Kategorien von Raum und Zeit denkt, versucht er,
seine Umgebung so zu gestalten, dass sie durch dieses Schema erfassbar wird. In diesem Sinne ist auch
die Verräumlichung des Internet zu sehen: Weil der Raum in der physischen Welt zusammen mit der
Zeit ein Bezugssystem für die menschliche Wahrnehmung geworden ist, versucht man der Einfachheit halber
auch das Internet als etwas Räumliches darzustellen. Dieses Prinzip schlägt sich in der Entwicklung
graphischer Benutzeroberflächen für den Computer nieder: Die Steuerung einst ausschließlich
textbasierter Programme wurde weitgehend durch selbsterklärende graphische Symbole ersetzt. Der Benutzer
sollte so nicht mehr gezwungen sein, Befehle eines Programmes auswendig zu lernen, sondern rein intuitiv
von der Bildsymbolik auf die Funktion schließen können. Auch das Internet erlangte durch die
Darstellungsmöglichkeiten des World Wide Web neue Potenziale, um den Zugang zu den weltweiten
Informationen zu vereinfachen: Zum einen nahm der multimediale Charakter dem Internet einen Teil seines
bisher abstrakten Wesens, zum anderen verstärkten die Sprungadressen den Eindruck des Netzcharakters,
wodurch ein gezieltes Navigieren möglich wurde. Mit dem Sprung von einem Link zum anderen wurde die
Bewegung im physischen Raum assoziiert und der Schluss lag nahe, dort wo Bewegung sei, müsse es auch
einen Raum geben. Das Internet ist zum metaphorischen Raum geworden, um dem Menschen das Verständnis und
den Zugang zu einem primär abstrakten Gebilde zu vereinfachen. Mittlerweile wird der räumliche Charakter
durch eine Vielzahl von Anwendungen im WWW noch verstärkt, die tatsächlich Räumlichkeit nachbilden. Es
existieren graphisch gestaltete Chatwelten, die aus einzelnen Chaträumen bestehen, durch die man sich
mit einem Avatar, einer Art steuerbare Comicfigur, von der man im Chatraum repräsentiert wird, bewegen
kann. Eine Variante sind 3D-Modelle von Städten ( Virtual Cities), die sich darauf konzentrieren, den
optischen Eindruck einer Stadt wiederzugeben. Sie werden häufig als Werbeflächen für kommerzielle
Angebote genutzt.
|
Wenn also der Eindruck der Räumlichkeit dem Menschen als Orientierungshilfe in einem abstrakten System
dient, kann es zu einem neuen Aufgabenfeld der Kulturgeographie werden, die Mechanismen dieses
Phänomens zu untersuchen. Im Prinzip greift diese Tätigkeit auf die Wurzeln der Geographie zurück, ging
es doch in der frühen Erdbeschreibung ebenfalls darum, bisher Unbekanntes zu erforschen, Strukturen zu
erfassen und damit dritten Personen den Zugang zu diesem Raum und eine Orientierung in ihm zu
ermöglichen. Damit eröffnet sich der Kulturgeographie die Kooperation mit einer weiteren
Nachbarwissenschaft, die sich aus einer Vielzahl von Einflüssen anderer Disziplinen zusammensetzt:
das Wissens- oder Informationsmanagement. Bereits jetzt gibt es Konzepte sogenannter Informationsräume
oder Informationslandschaften, die im Zusammenhang mit der Gestaltung der Schnittstelle Mensch-Computer
erforscht werden. Das Mapping stellt dabei eine Sonderform der Visualisierung dar, denn es benutzt die
klassischen Funktionen einer digitalen Landkarte. Der Grundgedanke des Mapping wird wie folgt definiert:
Mapdisplays resultieren aus der Idee, die visuelle Metapher einer geographischen Karte auf den
Informationsraum anzuwenden. Eine geographische Karte ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie
grafische Displays eingesetzt werden können, um eine große Anzahl von Informationen und deren
Relationen zu veranschaulichen.
(DÄSSLER/PALM, 1998, S. 51)
Ein Anwendungsgebiet der Visualisierung von Informationen sehen die Autoren unter anderem in der
Strukturierung der Inhalte des Internet. Ein neuer Ansatz der Geographie kann in diesem Bereich, ähnlich
wie in der klassischen Raumplanung, die Funktion übernehmen, aktiv an der Gestaltung des Raumes (in
diesem Fall des virtuellen) mitzuwirken. Als Grundlage könnten die Studien des Mental Mapping
genutzt werden, um anhand dieser Ergebnisse das Orientierungsverhalten des Menschen im physischen Raum
zu analysieren und die Anwendbarkeit dieser Muster auf den virtuellen Raum zu untersuchen. Damit ist
aber bereits ein sehr abstrakter und von den bisherigen Inhalten weit entfernter Bereich angesprochen,
der sich der Kulturgeographie erschließen könnte. Denkbar sind weitaus naheliegendere Inhalte, die im
Folgenden in einer ersten Übersicht dargestellt werden. Die Konkretisierung der Forschungsinhalte wird
in den nächsten beiden Kapiteln anhand ausgewählter Beispiele vorgenommen.
|
Wie Abbildung 3.1 zeigt, bewegen sich die Themengebiete der Kulturgeographie des Internet zwischen den
beiden Polen physischer und virtueller Raum. Innerhalb der Gruppe der neuen Themenbereiche steht die
Analyse der physischen Infrastruktur des Internet dem physischen Raum am nächsten. Dieser Aspekt ist
auch für weitergehende Fragestellungen von elementarer Bedeutung, da das Vorhandensein einer
Datenübertragungsmöglichkeit jeglicher Nutzung des Internet vorausgeht. Verbreitungsanalysen der
Infrastruktur sind sowohl auf lokaler, als auch auf globaler Ebene relevant und ermöglichen erste
Aussagen über Zugangsdisparitäten und ihre räumliche Verbreitung.
Abbildung 3.1 Teilbereiche der kulturgeographischen Untersuchung des Internet (eigene Darstellung).
In der Weiterführung dieses Ansatzes können die Datenströme untersucht werden, die durch die Nutzung der
im ersten Schritt untersuchten Infrastruktur entstehen. Als Ergebnis kann eine Art Verkehrsbericht
(auch als Wetterbericht des Internet bezeichnet) für das Datenaufkommen und die Auslastung
der vorhandenen Ressourcen erstellt und damit Zeiten und Knotenpunkte mit erhöhtem Datenverkehr
ermittelt werden. Da lange Übertragungszeiten und geringe Übertragungsbandbreiten noch immer als
limitierender Faktor für eine intensivere Nutzung des Internet angeführt werden, kann dieser
Analyseansatz zur effizienteren Gestaltung der Infrastruktur beitragen. Im Zentrum der ersten beiden
vorgestellten Themenkomplexe steht also die Frage, wie das momentane Verhältnis von vorhandener
Infrastruktur und dem realen Bedarf aussieht.
|
Wenn man in den Übergangsbereich zwischen physischem und virtuellem Raum eintritt, so ist gemeint, dass
nicht mehr nur physische Aspekte der Datenübertragung betrachtet werden, sondern die übertragenen
Inhalte eine Rolle spielen. Der Bezug zu den traditionellen kulturgeographischen Inhalten ist in diesem
Bereich am ehesten herzustellen, indem die Einflüsse des Internet auf die klassischen Forschungsbereiche
dargestellt werden. Der Charakter des Internet bedingt es, dass Veränderungen in einzelnen Bereichen der
Wirtschafts- und Sozialgeographie stärker hervortreten. Die Internetnutzung ist dennoch mittlerweile so
vielfältig, dass fast für alle Themenkomplexe eine Einflussnahme festgestellt werden kann. Man würde das
Internet zum Beispiel nicht primär mit der Geographie des ländlichen Raumes in Verbindung bringen. Es
gibt dennoch Ansätze, die der Frage nachgehen, wie das Internet das Verhältnis Stadt-Land beeinflusst,
ob der fehlende Ausbau eines Hochgeschwindigkeitsnetzes zu einem weiteren Nachteil für den ländlichen
Raum wird und ob das Internet dazu beitragen kann, dessen Bedeutung durch Zugang zu Bildungs-,
Verwaltungs- und Versorgungsressourcen wieder aufzuwerten (SMITH/KOLLOCK, 1999, S. 265ff.).
|
Bleibt als dritter Bereich der ausschließlich virtuelle Raum. Wie bereits festgestellt wurde, existiert
der rein virtuelle Raum nur dort, wo der Mensch nicht durch seine physische Existenz mit dem physischen
Raum verbunden ist. Da diese Bedingung kaum zu erfüllen ist, kommt die Analyse des rein virtuellen
Raumes für das hier angestrebte Ziel nur eingeschränkt in Betracht. Einen ersten Ansatz, bei dem der
Mensch nicht unmittelbares Element des virtuellen Raumes ist und damit die genannte Bedingung in den
Hintergrund tritt, stellt das Konzept des räumlich orientierten Informationsmanagements dar. Hier
entsteht ein zwar an menschlichen Bedürfnissen orientierter, aber dennoch von den physischen Bedingungen
weitgehend unabhängiger Raum mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Inwiefern dieser Bereich in das
Aufgabengebiet der Kulturgeographie fällt, soll im letzten Kapitel analysiert werden.
|
Im nun folgenden Teil werden die eben vorgestellten Arbeitsbereiche der kulturgeographischen
Beschäftigung mit dem Internet detailliert behandelt. Dabei sollen sowohl bereits vorhande
Forschungsansätze und Methoden, als auch bisher noch nicht im wissenschaftlichen Rahmen behandelte
Ansätze erläutert werden.
|
Magisterarbeit SS 2000, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., Geographie,
© Inga Heinze 2000